Die Trotzphase bei Trisomie 21
Neulich im Freibad ist Ronja nur mit einer schmutzigen Windel bekleidet zum Schaukeln in der prallen Sonne gerannt. Während ich sie mit einer Flasche Sonnencreme verfolgte, begann unser Baby auf der Decke zu weinen. Als ich das große Kind schließlich erwischte, weinte es ebenfalls: „NEIN, ICH WILL NICHT! SONNENCREME NICHT! ICH WILL SCHAUKELN!“.
Baby Emil schrie lauter. Er war mit dem Gesicht in die Wiese gefallen. Ich schleppte Ronja unter dem Arm zurück zu unserer Decke um das Baby zu retten. Dort angekommen hielt Ronja sich die Ohren zu und schrie noch etwas lauter, weil Emil schrie.
Ich cremte erst das schreiende große Kind ein und säuberte dann das schreiende Baby.
„Es ist die Hölle, oder?“ sprach mich etwas später eine andere Mutter an, die ebenfalls ein Kind verfolgte; allerdings mit einem Sonnenhut. „Sie lassen sich nicht waschen, nicht anziehen und nicht windeln. Nur Kämpfe und Diskussionen. Und abends liegst du im Bett und machts dir ewig Vorwürfe, weil du dich einmal am Tag im Ton vergriffen hast.“
Ja, es ist die Hölle. Bei einem Kind wie Ronja, das sich langsamer entwickelt als andere noch in viel stärkerem Maße als bei Anderen. Ich erkläre gleich warum.
Der Alltag: Schön, aber auch die Hölle
Es gibt viel Schönes im Alltag mit Kindern, aber es ist auch die Hölle. Es tut gut, sich das einzugestehen. Es tut auch gut, einzugestehen, dass sämtliche Erziehungsratschläge spätestens dann an ihre Grenzen stoßen, wenn es ein zweites oder gar drittes kleines Kind oder Baby gibt, das versucht, sich umzubringen, während ich damit beschäftigt bin, gewaltfrei mit meinem nach Autonomie strebenden Kleinkind eine Kooperationslösung zu finden.
Mein Kind ohne Anwendung von körperlicher oder seelischer Gewalt dazu zu bringen, das zu tun (oder mich das tun zu lassen), was gerade unvermeidlich ist – und ein Kind gegen seinen Willen einzucremen ist ein Akt körperlicher Gewalt – ist für mich keine Frage von Wissen, sondern von Können. Ich weiß, dass Trotz kein Trotz, sondern das überaus wichtige Streben nach Autonomie ist. Ich weiß, dass das Schreien des Kindes ein Ausdruck von Hilflosigkeit ist. Dass es vielleicht Wege gäbe, die Creme vorab zuhause und in Ruhe aufzutragen. Oder dass man UV-Klamotten tragen könnte. Oder, oder, oder.
Im Alltag gelingt es einfach nicht immer, alles vorauszusehen. Manchmal bin ich auch einfach zu erschöpft. Und dann kommt es zu Situationen, in denen Dinge einfach sein müssen. Das betrifft vor allem pflegerische Maßnahmen: Windeln wechseln, Nägel schneiden, Haare waschen, Zähne putzen, anziehen.
Das Drama Zähneputzen
Es ist sehr belastend, dass das bei Ronja oft nur unter Zwang und Kämpfen möglich ist. Dadurch, dass sie körperlich volle vier Jahre alt ist, mental aber einfach noch nicht so weit, erlebe ich die Grenzüberschreitungen, die ich dabei begehe, als besonders schlimm, gleichzeitig aber als besonders unvermeidbar.
Beispiel Zähneputzen: Sie hat seit drei Jahren Zähne im Mund, die geputzt werden müssen. Sie kann es seit drei Jahren nicht alleine und sie wehrt sich seit drei Jahren mit immer größerer Vehemenz dagegen, dass wir ihr die Zähne putzen. Das ist ebenso verständlich wie furchtbar. Ich kenne all die Menschen und Ratgeber, die zur Entspannung raten. Dazu, es nicht zu übertreiben mit der Sorge um die Zähne und es auch mal spielerich angehen zu lassen, um dem Kind das Ganze nicht endgültig zu verderben. So schnell kommt schon kein Karies, sagen diese Ratgeber.
Fakt ist: Sie sind geschrieben für Kinder, die spätestens mit drei Jahren in der Lage sind, ansatzweise effektiv selbst zu putzen. Kinder, die mit drei sprechen und verstehen. Ronja war und ist dazu nur eingeschränkt in der Lage.
Fakt ist ebenfalls: Ronja hat bereits Karies auf beiden Backenzähnen.
Der Karies darf nicht stärker werden, denn es ist ausgeschlossen, dass man die Zähne bohren kann. Sie hält nicht still. Karies bei Ronja zu behandeln bedeutet Krankenhaus und Vollnarkose.
Deswegen sind wir unentspannt und tun dem Kind Gewalt an, um es vor schlimmerer Gewalt (Vollnarkose und allem, was damit verbunden ist) zu bewahren. All die Tipps zu Kooperationslösungen: Sie funktionieren bei Ronja in zwei von zehn Fällen. Wir können die Pflege nicht achtmal ausfallen lassen.
Das Drama Wickeln
Genauso das Windeln: Oft geht es gut. Ronja darf mitmachen, wir wickeln erst die Puppen, dann sie. Wir singen Lieder, wir lesen Bücher darüber, wir wickeln das Baby auch. Aber manchmal ist sie wund, geht nicht aufs Klo, spürt das dann schon selbst und will entsprechend nicht gewickelt werden. Und dann ist es die Hölle. Ronja ist vier Jahre alt. Wenngleich sie noch recht klein ist, ist sie ein kräftiges Kleinkind. Bereits rein körperlich ist es ein Kraftakt, sie sauber zu machen, wenn sie sich wehrt. Mental ist es noch schrecklicher. Denn wieder ist es rohe Gewalt, die wir ausüben. Zu ihrem besten zwar (die volle Windel kann nicht dranbleiben) aber dennoch Gewalt. Und dazu noch im Windelbereich. In einer Körperzone, bei der es eigentlich umso wichtiger ist, das Kind erleben zu lassen, dass es Autonomie über seine Körper hat und Handlungen ablehnen darf, die ihm unangenehm sind.
Allgemeine und Downyndrom spezifische Herausforderungen in der Trotzphase
Wir haben also gewissermaßen eine doppelte Problemkonstellation mit Ronja: Einmal die Alltagssituationen, die wahrscheinlich die meisten Familien kennen, in denen es aufgrund äußerer Zwänge und Umstände nicht gelingt, so gewaltfrei zu agieren und zu erziehen, wie man es gerne möchte. Dieses Problemfeld haben wir mit allen Eltern gemeinsam.
Zusätzlich ist da aber auch die Downsyndrom spezifische Herausforderung. In den Pflegegutachten zur Beantragung eines Pflegegrades wird das zusammengefasst als „Abwehr pflegerischer Maßnahmen“. Spezifisch problematisch ist hier, dass Ronja mit zunehmendem Alter die notwendigen körperlichen Übergriffe immer stärker als solche empfindet und sich dagegen wehrt, wir ihr diese aber dennoch nicht ersparen können, da sie Vieles – anders als andere Kinder – tatsächlich noch nicht alleine kann. Zusätzlich erschwerend kommt ihre große Beharrlichkeit (Starrsinn?) hinzu. Es ist wohl so, dass Menschen mit Downsyndrom sowohl positive Erlebnisse und Emotionen als auch Negatives und Frustrierendes besonders stark und schnell abspeichern. Daher ihre große Liebe und Treue zu Menschen, die sie einmal ins Herz geschlossen haben, daher aber auch die konsequente Verweigerung, wenn etwas erst einmal negativ besetzt ist, oder wenn sie etwas nicht möchten.
Es ist nicht so, dass Ronja kognitiv nicht in der Lage wäre, sich beeinflussen und überreden zu lassen. Manchmal gelingt es und dann ist sie lammfromm und kooperiert und niemand kann sich vorstellen, wie sehr das Kind sich verweigern kann. Ist sie aber in der falschen Stimmung – und das ist zum Beispiel immer am Abend der Fall – dann gelingt es uns nicht, sie aus dieser Stimmung herauszuholen.
Verhaltensauffälligkeiten begründen höhere Pflegegrade
Wie belastend das sein kann, ist von außen vielleicht schwer zu ermessen, denn durch die große Ähnlichkeit zu dem, was ja jeder mit dem eigenen Kind schon erlebt hat, scheint die Autonomiephase von Kindern mit Trisomie 21 nichts Besonderes zu sein. Ich habe immer wieder das Gefühl, Außenstehende können schwer ermessen, wie unheimlich schwer zu vermeiden manche Eskalationen sind, wenn man ein Kind hat, was meist eben nicht mit sich verhandeln lässt. Wie unheimlich müde es macht, eigentlich permanent pädagogisch wertvolle Lösunge aus dem Hut zaubern zu müssen und damit oft dennoch nicht weiterzukommen.
Wie gesagt, es mangelt nicht am Wissen um Tipps, Tricks und didaktische Kniffe, es mangelt am Können. Seitens Mutter und Kind.
Unter anderem diese Verhaltensauffälligkeiten sind ein Grund, warum auch körperlich relativ fitte Kinder mit Downsyndrom einen vergleichsweise hohen Pflegegrad „verdienen“ und mittlerweile immerhin auch anerkannt bekommen können. Auch wenn ein Kind nicht gefüttert und getragen werden braucht, kann der Alltag – neben anderen Faktoren – gerade aufgrund des durch die gute Entwicklung entstandenen Autonomiebedürfnisses unheimlich anstrengend sein. Ronja hat einen sehr passenden und nötigen Pflegegrad drei.
Was also ist das Fazit? Was tun, wenn die eigentliche Autonomiephase beginnt? Ich habe keinen passenden Tipp außer dem Üblichen: Auszeiten nehmen, durchatmen. Bei Downsyndrom zusätzlich: Pflegegrad beantragen bzw. Wiederbegutachtung zur Erhöhung des Pflegegrades wegen Verhaltensauffälligkeiten beantragen. Und ganz wichtig: Zugeben, dass es anstrengend ist. Mit der Liebe zum Kind hat das nichts zu tun, denn würde man nicht lieben, wäre man auch nicht gestresst.
Danke Gundula wie immer für diese Offenheit und Ehrlichkeit zu dir selbst und sei stolz auf dich, dass du dir die Gedanken über die Gewaltausübung überhaupt machst. Dein Fazit mag auf den ersten Blick erstmal ernüchternd aussehen, ( wir sprachen ja auch schon darüber) , aber ich finde du hast es brillant auf den Punkt gebracht. Oder hat hier jemand noch etwas hinzuzufügen?
Ich kann alles so wirklich gut nachempfinden. Auch dass man letztlich Dinge im Alltag zuweilen anders händeln muss, als man es sich jemals fest vorgenommen hat. Nach dem, wie du es beschreibst, scheinst du es aber wirklich richtig und gut zu machen. Nur wer (bisweilen) schwierige Kinder hat, kann hier mitfühlen. Ein Zitat , das mir neulich begegnete :“ Ich konnte so lange am Besten Kinder erziehen, solange ich selber noch keine hatte“. Im Übrigen finde ich das Wort Gewalt hier fehl am Platze. Das Einzige, was du tust, ist mit „positiv wirkendem Nachdruck“ (=meine Definition) zu agieren und in eine richtige Richtung zu lenken. Danke , dass du so offen schreibst. Viele werden dir dankbar sein und sich in deinen Texten wiederfinden. Ich wünsche dir, liebe Gundula, dass du weiterhin mit all deiner positiven Energie deine wunderbaren Kids ins Leben begleitest. LG Barbara PS: Der Anblick deiner Ronja , wie sie da auf dem Bürgersteig liegt , kommt mir irgendwie bekannt vor, wenn ich mich da so an unsere Kinderzeiten erinnere………