Immer wieder höre ich, dass eines der Probleme, die man mit Kindern mit Down Syndrom so habe, ihr teils extremer Starrsinn sein. Der Starrsinn entwickele sich erst mit den Jahren und er halte oft lange an. Diesen berüchtigten Starrsinn müsse man möglichst frühzeitig ausmerzen, denn sonst werde man ewig Probleme haben mit einem Kind, das einfach auf seinem Willen beharre und dadurch kaum gesellschaftsfähig sei.

Ronja beginnt langsam, die Bedeutung von „Nein“ zu verstehen.

Sie lernt, sich Dingen zu verweigern: durch entschiedenes Kopfschütteln, Strampeln oder empörtes Meckern zeigt sie sehr deutlich, was sie möchte und was eindeutig nicht. Parallel beginnt auch ihre Mutter, die Wichtigkeit des Wortes „Nein“ zu erahnen. Sie erkennt mehr und mehr, welche Macht und welches Freiheitspotential darin liegt, sich auch Kleinigkeiten einfach mal zu verweigern: „Nein“, ich bringe den Müll nicht eben noch raus. Ich schreibe jetzt. „Nein“, ich mache nicht eben noch ein Fläschchen fürs Kind. Das muss Papa machen. Ich schlafe jetzt wieder ein, und dann aus. „Nein“, ich beantworte diese E-Mails nicht mal eben. Ich lasse die Menschen, die mir schreiben, Tage und Wochen warten, denn ich verbringe lieber ungestörte Zeit mit meinem Kind. „Nein“, ich backe keinen Kuchen zur Geburtstagseinladung, „Nein“, ich möchte jetzt gerade nicht telefonieren, denn ich bin müde. „Nein, Nein, Nein“.

Ronja und Mama im Biergarten
Ein starrsinniges Kind im Biergarten
Dieses „Nein“, das ich gerade mit immer mehr Sicherheit und Freude lerne zu gebrauchen, ist kein „Eigentlich-lieber-nicht,-denn…wenn-es-okay ist….aber…“, sondern es ist einfach nur eine brüske, unerklärte, absolute Veweigerung: „Nein!“.

Das will ich nicht. Punkt. Es ist genau die Art von „Nein“, welche Ronja mit großer Freude lernt zu gebrauchen: „Ja, du hast mir drei Erdbeeren gegeben. Das war auch gut. Aber die vierte will ich nicht mehr. Nein, Nein, Nein. Ich bin satt. Punkt.“ Die Sache ist nicht zu diskutieren, denn das Bedürfnis ist klar.

Ob dies schon der berüchtigte „Starrsinn“ ist oder (noch) ein „ganz normaler“ Entwicklungsschritt (die Problematik des Wortes „normal“ ist mir auch in diesem Kontext sehr bewusst), das weiß ich nicht.

Es ist auch nicht wichtig. Wichtig sind die Gedanken zum Thema Starrsinn, die Ronjas Verhalten in mir auslöst. Ich lerne gerade von meinem Kind. Und ich verstehe, dass scheinbarer Starrsinn eine sehr, sehr wichtige, gute Eigenschaft ist, die man kultivieren sollte. Starrsinnig bin ich ja nur für denjenigen, der sich über mein „Nein“ ärgert. Für den, der möchte, dass ich wie gewohnt funktioniere und für den es sperrig ist, dass ich meine Bedürfnisse einfordere.

Eigentlich ist „Nein“ sagen können“ doch etwas Gutes.

Es ist Thema in jeder zweiten Frauenzeitschrift, die sich den Anschein von Tiefe verpassen möchte. Es ist Empfehlung Nummer eins in überteuerten Seminaren und Fortbildungen zum Stressabbau und Zeitmanagement. Die Ratgeber zu diesem Thema können einen eigenen Buchladen füllen. Wenn wir als Erwachsene diese Fähigkeit so sehr an uns missen, warum setzen wir dann in der Erziehung nach wie vor so viel daran, unseren Kindern (völlig ungeachtet ihrer Chromosomenzahl) diese Fähigkeit abzutrainieren? Ist es nicht genau das inuitive Wissen darüber, was uns gut tut, welches wir unseren Kindern durch sogenannte „Konsequenz“ in der Erziehung nehmen, während wir selbst in unserem Selbsfindungprozess versuchen, genau dieses Bewusstein mühsam wieder zu erlangen?

„Nein“ sagen zu dürfen ist etwas, was mir in unserer Gesellschaft nur bestimmten Personengruppen erlaubt zu sein scheint.

Wenn alte, weiße Männer „Nein“ sagen, dann zeugt dies von ihrer Gradlinigkeit und Konsequenz. Sie haben dann einen „Blick fürs Wesentliche“. Frauen die selbiges tun, sind ziemlich zickig. Oft haben sie auch einfach ihre Tage. Wenn Mütter „Nein“ sagen, dann sind sie tendenziell bindungsgestört oder pflichtvergessen. Kinder schließlich sind schlecht erzogen und wenn Behinderte auf ihre Bedürfnisse aufmerksam machen, dann ist dies der für das „Krankheitsbild“ typische Starrsinn, der aus ihnen spricht. Letztere Erklärung entbindet von der Pflicht, sich näher mit den möglichen Motiven des Starrsinnigen zu beschäftigen. Indem man die damit verbundene Willensäußerung pathologisiert, braucht man sie nicht mehr ernst nehmen. Wir sperren „Behinderte“ in „Einrichtungen“, nehmen ihnen jegliche Privatsphäre und traktieren sie mit Regeln, die vermutlich keiner von uns länger als ein paar Tage ertragen würde. Wenn dann jemand darauf reagiert, wie es jeder normale Mensch tun würde: mit Widerstand oder Aggressivität, dann wird dies paradoxer- und perfiderweise nicht als ein Ausdruck legitimer Bedürfnisse und geistiger Gesundheit gedeutet, sondern im Gegenteil, als in Beweis für Therapiebedarf. Diese Fehlinterpretation liefert Argumente dafür, den Missstand zu verfestigen, ansatt ihn zu beheben.

Die eigene Freiheit endet dort, wo sie die Freiheit des anderen beschneidet.

Dies ist der Grundkonsens unserer Gesellschaft, der für alle gilt. Er gilt auch für Ronja. Natürlich muss ich ihr erzieherisch auch Fähigkeiten dazu vermitteln, die eigenen Bedürfnisse zurück zu stellen und die Bedürfnisse anderer zu respektieren. Damit verbunden ist auch die Einsicht, dass es manchmal gut ist, einen Kompromiss einzugehen, obwohl man eigentlich „Nein“ sagen möchte. Wichtig für mich ist dabei aber, dass das Wissen um die eigenen Bedürfnisse und die Fähigkeit zur Verweigerung an sich gut und wichtig ist, auch wenn es Gelegenheiten gibt, in denen man bewusst davon zurücktritt.

Ich weiß nicht, ob Ronja in den nächsten Jahren noch extremen „Starrsinn“ entwickelt. Ich weiß nicht, ob ich dann vielleicht ganz anders darüber denke, als ich es jetzt tue. Wie alle meine Beiträge ist auch dieser Beitrag ein völlig subjektiver, situativer Einblick in meine Gedanken und Gefühle.

Ich frage mich jedoch, ob das, was oft als „Down Syndrom typischer Starrsinn“ problematisiert wird, nicht in Wahrheit eine große Fähigkeit ist.

Wenn ich in manchen Situationen vielleicht länger brauche als andere, ist es da nicht das Beste und Sinnvollste, was ich tun kann, mir genau die Zeit zur Wahrnehmung zu nehmen, die ich benötige? Wenn ich in einer Welt lebe, deren gesamte Architektur für den neurophysiologischen Normalfall konzipiert ist, ist es da nicht eine große Fähigkeit, meine eigenen Bedürfnisse erstens zu kennen und ihre Akzeptanz zweitens (eben durch scheinbaren Starrsinn) auch einzufordern?

Als wir mit Ronja zu ihrer Herz-OP im Krankenhaus waren, haben wir einen jungen Mann mit Trisomie 21 und seine Mutter kennen gelernt. Er wollte unbedingt alleine in der Cafeteria essen gehen, sie (eine tolle Frau übrigens, deren E-Mail leider immer noch unbeantwortet ist) war der Meinung, er solle mit ihr gemeinam gehen, da er ohnehin wahrscheinlich Hilfe brauche. Etwas später saßen wir in der Cafeteria und er auch. Allein. Mit einem Tablett voll Essen. Das Besteck war in einen Plastikbeutel eingeschweisst, der schwierig zu öffnen war. Er versuchte es vergeblich, nahm dann Blickkontakt zu uns am Nebentisch auf: „Entschuldigen Sie, können Sie mir helfen, bitte?“, fragte er uns. Formvollendet. Exakt in dieser Formulierung. Wir halfen und er aß. Selbständig. Alleine.
Er brauchte seine Mutter tatsächlich nicht, denn er besaß genau die Lösungsstrategien, die er eben brauchte, um ohne sie zurecht zu kommen. Sie schien ihn unterschätzt zu haben. Ist eine große Portion Starrsinn nicht die beste Fähigkeit, die man haben kann, um sich in solchen Situation zu behaupten?

3 Gedanken zu “Typisch Down Syndrom? – Über unterstützenswerten Starrsinn

  1. Huhu
    Meiner ist mit diesem Starrsinn ausgestattet und zwar ziemlich 😉
    Einerseits ja, es kann gut sein, aber oft steht er sich selbst damit im Weg. Und es hat früher alle strapaziert. Denn mit dem Starrsinn ist auch ein Dickkopf dabei und ein unglaublicher Wille.

    Früher als er klein war hat er zb gelernt willentlich zu erbrechen. Und wenn ihm was nicht passte spuckte er einfach alles voll. Oder die vielen Stunden in denen er bockig irgendwo herum saß und sich weigerte zb nach Hause zu gehen. Oder selbst zu essen oder die Treppe hoch zu laufen oder oder. Oder hier oder dorthin zu gehen. Die vielen Wutausbrüche gehören finde euch auch zu dem
    Thema dazu. Das absolut nicht einsehen wollen das die eigene Meinung nicht immer die richtige ist, der Dickkopf keine andere Meinung zu zu lassen oder Kompromisse einzugehen wie es eben jeder in der Gemeinschaft machen muss.

    Er verbaut sich so auch Freundschaften zT. Und so weiter. Auch in Kita oder Schule gibt es deshalb sehr schwierige Phasen. Die einfach so nicht sein müssten. Denn auch für ihn ist das nicht schön. Er hat in der Situation dann auch kein gutes Gefühl. Er merkt das er aneckt, das andere dann genervt sind und er so eben auch nicht weiterkommt. Ist dann oft ein Teufelskreis. Es kann eben NICHT alles nach seinem Kopf gehen.

    Ich finde nein sagen und auch ein wenig Dickkopf gehört dazu und ja sie sind positiv.
    Auch mein anderes Kind ist dickköpfig. Und mein Mann auch und er behauptet ich bin es 😉 Aber man kann es absolut nicht vergleichen.

    Es ist mit den Jahren deutlich besser geworden. Trotzdem ist seine Freiheitsliebe wie ich es manchmal positiv formuliere noch stark vorhanden und für alle oft anstrengend. Auch für ihn. Und wenn er eben in der Gesellschaft zurecht kommen möchte wird er sich eben an Regeln halten müssen. Man kann in einer Gemeinschaft nicht immer einfach mi heb was man wie und wann will und eben auch alles nicht machen was man nicht will. Auch das gehört zum selbstständig werden dazu.
    Gleichzeitig hat er sich übrigens lange alles von jedem gefallen lassen. Das scheinen leider 2 paar Schuhe zu sein….

    Laut sehr, mit Ds erfahrenen Therapeuten hat er selbst für Ds eine wirklich große Portion davon intus 😉

    Trotzdem ist er super und perfekt so wie er ist und es geht immer weiter in die richtige Richtung 😉

  2. Sehr geehrte Frau Rath,

    vielen Dank für Ihren Beitrag zum Thema „Starrsinn“.

    Wir sind unserem Sohn (13 Jahre, Down Syndrom) sehr dankbar für seinen eigentlich mittlerweile sehr vielseitig entwickelten „Starrsinn“. Vielleicht ist es ja nicht unbedingt nur das Beobachten oder das Erleben von Situationen in denen ein Kind einfach mal sturköpfig ist. Und da spielt das Down Syndrom eigentlich keine Rolle. Möglicherweise, und das ist unsere Beobachtung im Vergleich zwischen unseren beiden Kindern (meiner Tochter, 15 Jahre), sind die von uns als „stur“ eingeschätzten Reaktionen manchmal sehr viel direkter und emotionaler von unserem Sohn. Irgendwie ist das sehr ehrlich.
    Mittlerweile kann er seine Sturheit auch bewusst spielen. Das hat er dadurch lernen können, dass wir ab einem bestimmten Zeitpunkt auf seine Bedürfnisse und das eigene Formulieren sehr viel Wert gelegt haben.
    Denn gerade für einen Menschen, der von anderen vorwiegend wahrgenommen wird als müsste man ihm helfen, müsste man ihm die Reglen erklären, müsste man ihm sagen wie die Dinge funktionieren und müsste man ihn kräftig verwurschteln, wird dies irgendwann unerträglich. Und dann ist es wichtig, wenn sie lernen dürfen „nein“ zu sagen, oder auch klar zu sagen was sie möchten.
    Bei unserem Sohn haben wir irgendwann gemerkt, dass er bei einer Auseinandersetzung zunächst kategorisch ablehnt. Damit gewinnt er Zeit. Zeit die er benötigt um für sich eine gute Entscheidung treffen zu können.
    Vielen Menschen, die mit Arwed zu tun hatten/haben, konnten lange damit nicht umgehen. Zum Beispiel Erzieher*innen und Lehrer*innen konnten oft nicht aus ihrer Haut, vor den Mitschüler*innen die von diesen als „Extrazeit“ oder „Extrawurst“ beklagte „Ungleichbehandlung“ auszuhalten und zu erklären. Aber wer kennt es nicht:“ Die Gleichbehandlung ist die Ungleichbehandlung der Ungleichen“. Und dadurch haben die Schüler*innen ganz viel darüber glernt wie unterschiedlich wir alle sind und das wir auch gerne alle individuell in unseren Fähigkeiten und Fertigkeiten gesehen und behandelt werden möchten.

    Wir als Eltern unseres Sohnes haben vor allem von ihm gelernt geduldiger zu sein und abzuwarten bis er die Sache für sich durchgedacht hat. Wir haben auch gemerkt, wenn er erkennbare Optionen hat, steigt er bei weitem nicht so tief ein in die Verweigerung oder die „Sturheit“. Hat er diese nicht, verharrt er. Und ist es nicht genau das, was allen Menschen dann passiert?
    Das unser Sohn das heute gut kann, sich zu wehren, sich nicht verwurschteln zu lassen und gute Entscheidungen für sich treffen zu können, wird durchaus im ersten Moment von anderen als „Starrsinn“ wahrgenommen. Dass es das allerdings nicht ist, merken die Leute auch erst später. Wir merken das oft an der verwunderten Reaktion dieser Leute, wenn sie uns dann fragen:“Hat ihr Sohn versteckte Dateien im Kopf?“.
    Wir dürfen nicht vergessen, dass Menschen mit Trisomie 21 für die Lösung solcher Aufgaben eine bis zu zehnfach höhere Denkleistung benötigen (Prof. Zimpel). Schon alleine deswegen ist es bewundernswert, dass sie lernen können mit dem „Stur sein“ oder „Starrsinn“ oder „Selbständig werden“ u.s.f. angemessen umgehen zu können. Wir müssen sie darin nur bestärken und begleiten und vor allem akzeptieren, dass sie wie alle Menschen ihren eigenen Willen haben.

    Letztlich können wir von Menschen mit dem Down Syndrom noch sehr viel lernen!

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