Warum meine Tochter mit Downsyndrom wenig passende Kleidung findet

Die meisten Klamotten, die Ronja besitzt, passen ihr nicht.
Seit ihr Bruder auf der Welt ist, weiß ich: Es ist nicht meine Schuld.

Über vier Jahre hat es für mich bis zu dieser Erkenntnis gedauert. Vier Jahre, in denen wir anprobiert und gekauft und versucht haben und mir doch meistens das befriedigende Gefühl versagt geblieben ist, nach dem doch letztlich alle Eltern streben: Zu sehen, dass das Kind gut und passend gekleidet ist, dass es warm ist und sich wohl fühlt.

Das Gefühl, als Eltern zu versagen

Zu wissen, dass man in der Lage ist, die elementaren Grundbedürfnisse eines kleinen Kindes nach guter Nahrung, Sauberkeit und angemessener Kleidung gut zu erfüllen ist ein Grundbedürfnis. An der Erfüllung einer solchen elementaren Anforderung nicht nur manchmal, sondern im Dauerzustand zu versagen, führt genau dazu: Zu einem dauerhaften Gefühl des Versagens. Es fehlt die Genugtuung, das eigene Kind anzusehen und sich innerlich gewissermaßen selbst auf die Schulter klopfen zu können, dafür, dass alles sitzt und passt und einfach gut aussieht. Nicht im Sinne von Mode, sondern eben im Sinne eines sehr gut erfüllten Grundbedürfnisses.

Ronja und ihr Bruder schauen aus dem Fenster
Geschwister. Gleiche Eltern, gleiches Umfeld. Grundverschiedene Herausforderungen im Leben?

Andere Körpermaße bei Downsyndrom

Ronja passen ihre Klamotten deswegen nicht, weil sie in jedem Bereich ihres Körpers Maße hat, die leicht von der kindlichen Norm abweichen: Ihre Arme und Beine sind im Verhältnis zum Torso kürzer als bei anderen Kindern ihres Alters. Ihr Bauch gewölbter, ein scheinbares Hohlkreuz ausgeprägter. Ihre Finger sind kürzer und kräftiger; ebenso die Zehen. Und schließlich ist auch Ronjas Kopf anders geformt. Ihr Hinterkopf ist flacher, und ihre Ohren setzen tiefer an.

Wenn nichts richtig passt

Entsprechend hat Ronja in ihrem Leben meist Mützen besessen, die entweder die Ohren freilassen, oder ihr in die Augen rutschen, oder gänzlich nicht auf dem Kopf sitzen bleiben wollen. Wenn ein Pulli am Körper lang genug ist, dann müssen wir die Ärmel zweimal krempeln und passt er an den Ärmeln, dann guckt ihr Bauch beinahe heraus. Ähnliches gilt für Hosen, Handschuhe und Strümpfe. Schneeanzüge kann sie gar nicht tragen.

Wir haben also jahrelang gekrempelt und mit Kompromissen und Provisorien gelebt und obwohl ich ja von ihren abweichenden Körperformen wusste, habe ich es auf einer halbbewussten Ebene dennoch stets als mein eigenes Versagen erlebt, diesen Zustand nicht verändern zu können.

Ronjas Bruder zeigt, wie leicht es sein kann wenn die Welt passt

Es musste erst Emil geboren werden. Ich musste erst ohne Baby und ohne Anprobe in die Drogerie gehen und dem Baby eine Mütze in der Größe kaufen, die für sein Alter empfohlen ist. Ich musste erst nach Hause kommen, sie ihm anziehen und erleben: Es kann so einfach sein, sie passt perfekt und sieht sehr gut aus, bis ich realisieren konnte, wie groß die tatsächliche Belastung ist, die dadurch entsteht, wenn die Dinge nicht passen. Und wie wenig das an mir liegt.

Eine enorme Belastung des Alltags

Man mag es für ein triviales Alltagsproblem halten, gegenüber den Problemen, die sonst mit einer Behinderung verknüpft sein können, aber es ist nicht trivial. Ganz im Gegenteil: Es handelt sich um eine enorme Einschränkung und Belastung des Alltagslebens, die deswegen so gravierend ist, weil sie das Leben permanent prägt und begleitet ohne dabei jemals wirklich für Außenstehende als solche sichtbar zu werden.
Nicht in der Lage zu sein, das eigene Kind angemessen zu kleiden, belastet mich, solange ich dafür zuständig bin. Es wird Ronja frustrieren, sobald sie selber ihre Kleidung aussucht. Es wird ihr immer wieder Selbstvertrauen nehmen, denn passende Kleidung ist das, was wir alle ganz selbstverständlich nutzen, um uns zu stärken. Und es wird ihr Akzeptanz nehmen und zu Diskriminierung führen, die wir deswegen nicht wahrnehmen, weil wir Menschen immer auch aufgrund ihrer Kleidung beurteilen und uns schlicht nicht vorstellen können, dass es jemandem passieren kann, einfach keinerlei passendes Outfit zu finden. Ronja wird wahrscheinlich oft damit leben müssen, Kleidungstechnisch unterhalb ihrer eigenen Ansprüche zu bleiben während ihr weiteres Umfeld gleichzeitig davon ausgeht, dieser leichte Misston in ihrer Außenwirkung sei gewollte Nachlässigkeit, anstatt Schicksal.

Die Unpassung der Dinge betrifft nicht nur Menschen mit Trisomie 21

Wie es sich anfühlt, in einer Welt zu leben, die bereits auf der rein dinglichen Ebene nicht passt, kann auch erleben, wer keine Chromosomenanomalie vorweisen kann. Zumindest in Ansätzen. Ich denke da an den Anschnallgurt auf dem Fahrersitz des Autos, dessen in-meinen-Hals-schneiden ich als zwar quälende, aber unabänderliche Gegebenheit der Welt hingenommen habe, seit ich Auto fahren kann. Ich denke da an mein Handy, dass sich nicht mit meinem Daumen bedienen lässt, da dieser augenscheinlich zu kurz ist. Ich denke an die körperliche Schwerstarbeit, die es darstellt, sich mit einem Kinderwagen in einem öffentlichen Raum voller Hindernisse zu bewegen.
Es brauchte die Bücher von Caroline Criado-Perez und Rebekka Endler („Unsichtbare Frauen“ und „Patriarchat der Dinge“) um in mir das Nachdenken darüber anzustoßen, dass diese Unpassung kein Naturgesetz, sondern Resultat eines Produktdesigns und einer Stadtplanung ist, welche sich am 1,80 m großen Durchschnitssmann orientieren und Frauen schlicht nicht berücksichtigen.

Unpassungen zu erleben, Hindernisse im öffentlichen Raum, die uns auf Hilfe Dritter angewiesen machen, Produkte zu benutzen die nicht für uns gemacht sind, bewirkt so viel mehr Einschränkung, als man zunächst denkt. Weil wir gelernt haben, es nicht zu hinterfragen und unser Leben lang Strategien entwickelt haben, damit zu leben anstatt es ändern zu wollen. Wie unermesslich viel größer müssen da die Einschränkungen sein für Ronja und für alle Menschen, die unter den Bedingungen einer Trisomie 21 leben?

Ein Lichtblick zum Ende: Endlich eine passende Brille

Immerhin gibt einige Menschen, die zu einer Bewusstwerdung dieses Themas beitragen und die auch außerhalb der Literatur einfach etwas bewirken. Kurz vor Weihnachten haben wir einen Weihnachtswichtel aus einer Märchenwelt besucht. Er ist Optiker mit jeder Faser seines Wesens. Er besitzt einen zauberhaft dekorierten Laden (https://www.optiker-junge.de/optik-junge-in-bad-staffelstein), war zauberhaft zu Ronja und hat uns zum Abschied Marmelade geschenkt. Und er vertreibt Brillengestelle, die speziell für Kinder mit Downsyndrom gemacht sind, damit sie richtig passen: https://www.specs4us.com/. Im neuen Jahr ist die neue Brille fertig.

4 Gedanken zu “Wenn die Welt nicht passt

  1. Ach ja, das wusste ich schon, dank meiner 2 großen Jungs! Bei Noah ist es genau so, arme und Beine zu kurz, Bäuchlein zu rund und zu gestaucht! Wir mixen Größen und ziehen an was gerade zusammen passt, bei 3 Jungs auch kein Problem! Schneeanzug habe ich von JAKO-O, immer eine Größe kleiner als eigentlich gebraucht wird, das klappt ganz gut, dann kann man ihn auch 2-3 Jahre anziehen. Außerdem sind die Handschuhe toll! Da hat sich jemand was gedacht!
    Liebe Grüße

  2. Liebe Gundula,ich kann so gut mitempfinden, wie kleine Dinge, die eigentlich nicht ein echtes Problem sind , im Alltag zur Belastung führen. Anbei aber ein Tipp ( falls du den überhaupt brauchst) . Ich bin wahrlich nicht die große Schneiderin, aber ich habe ausprobiert, dass es supereinfach geht , Ärmel zu kürzen, wenn man diese nicht umnäht, sondern einfach das äußere Ende des Ärmels wie bei einer ausziehbaren Teleskopantenne nach innen schiebt. Dann entsteht eine Art Doppelbündchen falls du mich verstehst. Das gibt es ja auch bei regulärer Kleidung. Es schaut praktisch das Original-Ärmelende noch etwas heraus unter sozusagen einem zweiten äußeren Ärmelende. Der Vorteil: du musst das Ärmelemde nicht umnähen und neu modellieren, sondern das Original-Ärmelende bleibt sichtbar. Man muss das Ganze nur innen fixieren, was ich aber weniger schwierig finde, weil das die Optik nicht so stark beeinflusst. Ich habe ein ähnliches Beispiel bei Original-Kleidung im web gefunden, was das gleiche Prinzip zeigt. Allerdings ist hier die Größen-Diskrepanz zwischen äußerem und inneren Ärmel größer als bei einem Pulli oder Shirt, da es sich hier um einen wattierten Schneeanzug handelt. .https://www.lodenfrey.com/Save-the-Duck-Giga-Storm-Baby-Schneeanzug-1.html . Früher gab es diese Doppelärmel übrigens auch bei gekauften Shirts . Ggfs musst du innen im Ärmel dann etwas überschüssigen Stoff entfernen. Im Endeffekt finde ich aber, dass es vom Aussehen nicht auffällt als irgendwie „angepasst“. Zumindest würde das bei meinen eigenen (mangelnden Näh-)Fähigkeiten sonst eher auffallen. 😉 LG Barbara

      1. Das freut mich. Bleibt vielleicht noch zu erwähnen, dass ich je nach Kleidungsstück erstmal schaue:
        1. welche Länge soll vom Innenärmel speziell bei diesem Kleidungsstück sichtbar sein, was sieht hier gut aus, u.U. auch nur die häufig vorliegende Doppelnaht sichtbar lassen.
        2. Ich fixiere auch je nach Kleidungsstück unterschiedlich. Soll es locker aussehen, vielleicht bei einer Fleece-Jacke , dann fixiere ich evt. nur 4 Punkte. Bei einem Shirt ist es ggfs. sinnvoll rundum zu fixieren, wobei ich dann den Ärmel flachlege und dann nähe ich meist nicht einmal rund sondern zweimal die Hälfte damit es sich nicht verzieht und die Längsnaht von Innen- und Außenärmel exakt aufeinander zu liegen kommen.
        Also im Prinzip mache ich es je nach Typ Kleidungsstück individuell. Aber wenn man den Kniff raus hat, dann ist es ziemlich schnell flotte Routine. Unter Umständen lässt sich das Prinzip auch für Hosenbeine verwenden. Hier wäre es wahrscheinlich zu empfehlen, dass das reingeschobene Innenbein nur minimal raussteht. Außer es soll ein Jogginghosen-Stil sein mit sichtbarem Bündchen.. Also alles sehr individuell . Und bei Bedarf kann man uner Umständen auch später wieder verlängern. Ich wünsche dir viel Spaß beim Ausprobieren. LG

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