Das ist einer der Sätze, die ich schon oft gehört habe, als Ronja noch gar nicht laufen konnte. Nun läuft sie schon lange. Und es zeigt sich: Der Satz ist wahr. Zumindest irgendwie. In gewisser Weise.

In anderer Weise ist der Satz aber auch verkehrt, denn wenn wir unterwegs sind, läuft Ronja nicht von mir weg, sondern zu anderem hin. Das ist ein großer Unterschied: Sie benimmt sich nicht seltsam, hat keinen Tick und keine Störung, sondern ist einfach sehr interessiert an ihrem Umfeld, insbesondere an Menschen, und hat genug Mut und Willen, um diesem Interesse nachzugehen. Gehen, im wahrsten Sinne des Wortes.

„Hauo“ („Hallo“) reißt sie sich los von meiner Hand, rennt zu anderen Spaziergängern und begrüßt diese winkend.

„Oma!“ ruft sie begeistert (das Wort gebrucht sie für alle ihrer Meinug nach älteren Personen, was durchaus in schöner Regelmäßigkeit zu peinlichen Situationen führt) und schmiegt sich an den Oberschenkel einer etwas überforderten, mittelalten Dame. Ronja rennt auch gerne aus dem Supermarkt in Richtung Straße, während ich in der Schlange stehe oder gerade bezahlen muss. Und sie lässt sich auch nicht bewegen umzukehren.

Ronja läuft auf einem Weg im Park
Manchmal läuft Ronja auch zu mir hin.
Wir sorgen damit immerhin für etwas Unterhaltung im Supermarkt.

Für viele Menschen soll ja der Einkauf zum Highlight der Woche geworden sein. Durch uns bekommen sie dabei nun auch wirklich etwas geboten. Zum Beispiel eben eine Mutter, die ihrem Kind hinterhersprintet, das einfach nicht hören kann und zielgerichtet auf die Straße zurennt („Hätte es früher sicher nicht gegeben“), es dann unter dem Arm sprampelnd und schreiend zurückträgt und dabei versucht, durch die Virendichte FFP2-Maske zumindest so weit zu Atem zu kommen, dass die Situation nicht mit einer Ohmacht endet. Immerhin muss ich auf die Art nicht versuchen, souverän zu gucken bei der Aktion: Man sieht es ja eh nicht. Mir steigt der Schweiß dann so von innen hoch, aber das schreiende Kind unter meinem Arm macht es mir unmöglich, die Jacke zu öffnen. Also schwitze ich. Und keuche. Und bin getresssst. Und Ronja schreit und strampelt. Ihre Brille verrutscht und vor Wut beginnt die Nase zu laufen. Und die Menschen in der Schlange stehen da und warten, dass es weitergeht.


Ich setze mein Kind dann in den Einkaufswagen, aber da will sie nicht sein. Sie wollte ja irgendwo gezielt hin, und ich habe sie gehindert.

Also beginnt sie, die Einkäuf aus dem Wagen herauszuschmeißen. Beim Bücken danach verrutscht meine Maske. Das Ohr tut weh, aber ich kann den Mundschutz nicht justieren: eine Hand ist am Kind, damit es sich in seiner wut nicht aus dem Wagen stürzt, die andere sammelt die einkaäzfe vom Boden. Meine Maske ist mittlerweile nass und klamm von innen. Hoffentlich muss ich nicht niesen, dann wird es ganz schlimm.
Schließlich setze ich Ronja auf den Packbereich an der Kasse. Da gibt es Prospekte, die gehen immerhin nicht kaputt, wenn man sie auf den Boden wirft. Die Kassierein schaut verständnisvoll und schweigt. „Lassen Sie nur“, sagt sie, als ich die Zettel schließlich aufheben will und lächelt. Liebe Frau. Bestimmt hat sie Kinder. Endlich sind wir fertig. „Wir gehen jetzt heim, zu Papa“, sage ich zu meinem Kind. Da nimmt Ronja meine Hand und geht mit mir nach Hause als sei nie etwas gewesen. Lammfromm. Alles wieder gut. Zuhause gehe ich duschen.

Es gibt also durchaus ein Problem. Insofern ist der Satz wahr.

Das Problem ist mal stärker (zum Beispiel wenn die ganze Welt auf Abstand aus ist) und mal schwächer (wenn alles wieder normal würde oder wenn wir allein im Wald sind oder wenn Ronja das gleiche Ziel hat wie ich), aber es ist vorhanden.

Dass Ronja aber nicht weg-, sondern hinläuft, macht mich immer wieder darüber nachdenken, wie damit umzugehen ist.

Denn sie soll ja Interesse zeigen, lebendig sein, laufen. Das ist doch das, was wir uns immer erhofft haben. Jetzt haben wir es: Ein Putzmunteres Kleinkind, dass die Welt in sich aufsaugt. Abgesehen davon, dass es anstrengend ist und auch auch eher schwer vereinbar mit einer Pandemie: Ist es wirklich schlecht, dass sie tut, was sie tut? Sind es vielleicht nur unsere Normen, also das, was wir von Kindern eben so gewohnt sind, die ein „Hinlaufen“ als Problem darstellen? Ist es Bequemlichkeit, die uns dazu bringt, dies abtrainieren zu wollen?
Natürlich muss Ronja auch lernen zu gehorchen. Zum Beispiel im Straßenverkehr (und wir wohnen an einer großen Straße!) ist das, was sie tut, wirklich gefährlich. Aber ist es das wert, ihr das Hinlaufen und das Interesse an der Welt abgewöhnen zu wollen, zugunsten von etwas mehr Sicherheit?


Wie so oft, wenn es um Erziehung geht, weiß ich es nicht.

Wie so oft frage ich mich, wie viel von dem, was wir Erziehung nennen, wirklich geschieht zum Wohle des Kindes und wieviel sogennante Pädagogik in Wahrheit nur unserer Bequemlichkeit dient. Down Syndrom hin oder her. Die Zukunft wird zeigen wohin Ronjas Hinlaufen uns führt und wie wir damit weiter umgehen.

Ein Gedanke zu „„Ein großes Problem bei Kindern mit Down Sydrom ist das Weglaufen.“

  1. Liebe Gundula,
    da ich ja neulich live mit dabei sein durfte, als Ronja in der Stadt zu einem kleinen Jungen hingelaufen ist und die beiden dann Händchenhaltend in die andere Richtung liefen…..(Das war so ein schöner Moment) Bei all den Nerven die sicherlich immer auf der Strecke bleiben, erlebe ich euch beide als so entspannte und geduldige Eltern, die man jedem Kind, das gerade seine Welt entdeckt nur wünschen kann :-). Bei dem Punkt mit der Bequemlichkeit in der Erziehung stimme ich dir zu. Ich glaube genau so ist es. Am besten in der Öffentlichkeit bloß nicht auffallen und aus der Reihe tanzen. Aber den richtigen Leuten zaubern solche Situationen ein an der Entdeckungslust des Kindes erfreutes Lachen oder zumindest ein verständnisvolles Lächeln für die Eltern ins Gesicht. Daran muss man festhalten,….Alle anderen Reaktionen: Scheiß drauf! Die sind unwichtig. Mein Motto: wer lebt, der stört. 🙂 Das gilt doch für Groß und Klein! Liebe Grüße <3

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