Über Senkwehen, Wochenbett und die Geburt von Ronjas Brüderchen

„So eine Geburt dauert ja schon mal vier Stunden“, hat ein Freund mir gesagt, als wir im Winter besprochen haben, wer während der Geburt auf Ronja aufpasst. „Auch beim zweiten Kind kann eine Geburt richtig lange dauern“, meinte meine Frauenärztin. „Geburten dauern zwischen wenigen Stunden und bis zu drei Tagen“, stand auf irgendeinem Hebammenblog.

Ja, Ronja hat ein kleines, kerngesundes Brüderchen bekommen.
Die Geburt dieses Brüderchens hat neun Wochen gedauert. Wie ich das meine, darüber möchte ich hier berichten.

Nach der Diagnose Down Syndrom: Schwanger mit Kind zwei

Die Schwangerschaft mit Emil war gerade am Anfang durchaus belastet durch die Diagnosen Trisomie 21 und Herzfehler AVSD, die wir in Ronjas Schwangerschaft bekommen hatten. Gleichzeitig lief dieses Kind von Anfang an auch so nebenbei, wie es jüngere Geschwister wahrscheinlich häufig tun: Wo ich in der Schwangerschaft mit Ronja noch Zeit hatte, diverse Mittelchen gegen meine Übelkeit zu versuchen (von denen natürlich kein einziges geholfen hat), da habe ich – schwanger mit Emil – einfach vom Fahrad heruntergekotzt, nachdem Ronja in der Krippe abgeliefert war. Eigentlich war die Schwangerschaft mit Kind zwei so bestimmt von dem Erfordernis, trotz Übelkeit und Erschöpfung Kind eins zu genügen, dass kaum Zeit blieb, mich mit dem kleinen Wesen zu beschäftigen, dass da in meinem Bauch heranwuchs. Ängste flammten entsprechend nur sporadisch auf – vor allem vor Triggersituationen wie Ultraschalluntersuchungen – da dann aber um so heftiger. Ich habe fest vor, über meinen Umgang mit diesen Ängsten und über meinen Umgang mit der Pränataldiagnostik separat zu berichten.

Ein noch geschlossener, knospender Zweig

Obwohl – oder vielleicht auch gerade weil – Emil so wenig beachtet wurde, machte er sich von Anfang an selbst mit aller Macht bemerkbar. Zunächst durch Übelkeit, die mich, anders als bei Ronja, in den ersten Wochen täglich begleitete und mich diesmal sogar brechen ließ. Nach den ersten paar Wochen dann war es einfach die Größe meines Bauches, durch die Baby kein Zweifel daran aufkommen ließ, dass er nun unterwegs war. Ich war direkt sehr schwanger. „Viel schwangerer“ als ich es mit Ronja war und sehr erschöpft. So erschöpft, dass ich ab Woche 37 (von da an gelten Babys als termingerecht und reif geboren) nichts sehnlicher wünschte, als dass dieses Baby endlich auf die Welt kommen möge. Ich konnte kaum noch laufen, stehen oder sitzen, lag stundenlang auf der linken Seite (der einzigen noch halbwegs bequemen Position) und wollte ihn nur noch aus mir raus haben.
Als ob dieser Akt der Geburt selbst etwas wesentlich verändern würde daran, dass man mit dem Kind quasi einen Organismus bildet, als ob es mit dem herauspressen des Kindes getan und abgeschlossen sei. Als könne man die Geburt so einfach abgrenzen und definieren.

Es gibt keine Sprache für das Reden über Geburt

In unserer Welt, in der eine bestimmte Art von Denken, gerade in der Medizin, dominiert, in der Zahlen, Kurven und Tabellen vor Empfinden und Erleben steht, ist für das Geburtserleben selbst wenig Raum. Wenig Raum im Sinne von fehlender Zeit, Unterstützung und gesellschaftlichem Bewusstsein dafür, was eine Geburt für eine Frau bedeutet. Aber auch wenig Raum insofern, als es schlicht kein Vokabular, kein Konzept und keine Rituale gibt um zu beschreiben und zu berichten, wie sich eine Geburt anfühlt. Wie beschreibe ich stärkste Schmerzen, die den ganzen Körper, den gesamten Organismus ausfüllen und beherrschen, die aber dennoch nicht vergleichbar sind mit dem Schmerz, den man aus dem normalen Leben kennt, da es produktive, beherrschbare, mächtige Schmerzen sind, anders als der Schmerz von Verletzungen, dem man ausweichen möchte, anstatt in ihn hineingezogen zu werden? Wie beschreibe ich den Zustand vor der Geburt, in dem mein Körper sich auf die Geburt vorbereitet, mit Senkwehen, Müdigkeit und Reizbarkeit, durch die ich aus der Welt hinausgezogen werde, hinein in mein eigenes, abgekapseltes, nur noch intuitives Körpererleben? Die Wochen, in denen die Schmerzen nicht schlimm, aber doch so vielfältig und in Anspruch nehmend sind, dass ich mich in keinster Weise mehr gesellschaftsfähig fühle, nur noch nach innen orientiert bin; völlig in Anspruch genommen von den geburtsvorbereitenden Prozessen, die da in meinem Körper ablaufen? Und wie beschreibe ich die ersten Tage des Wochenbettes, in denen mit der Milch die Tränen fließen, in denen ich mich ganz langsam wieder vertraut mache mit meinem geschundenen Körper, der mich so vereinnahmt hat und mir nun, schlaff und leer nach der Geburt, doch so fremd ist?

„Die Geburt ist ein Ausscheidungsprozess“


„Die Geburt ist ein Ausscheidungsprozess“ – das habe ich irgendwo gelesen. Es klingt zunächst profan, doch das ist es nicht für mich. Es hilft mir, mich dem Geburtsgeschehen sprachlich zu nähern. Wichtig sind beide Wörter: Ausscheiden und Prozess. Die Betonung des Ausscheidens zunächst nimmt den alleinigen Fokus weg von dem Baby und erweitert ihn hin zur Mutter, hin zu allen anderen Dingen wie Blut, Schleim, Schweiß, Wochenfluss, Milch und Tränen, die da so ausgeschieden werden oder auf die Ausscheidung des Babys vorbereiten.
Das Verständnis eines Prozesses besagt, dass sich die Zustände vor, während und nach der Geburt eben nicht eindeutig definieren, quantifizieren und voneinander abgrenzen lassen. Der Prozess der Geburt beinhaltet alles, was mit Ausscheidung zu tun hat. Er beginnt mit dem, was die Mutter als geburtstsvorbereitende, innere Einkehr, Reizbarkeit und Abkehr von der Außenwelt empfindet. Die Rede in der Fachliteratur ist häufig von der sogenannten Latenzphase. Ich definiere diese Phase für mich viel weiter. Bei mir und Emil hat sie nicht nicht drei Tage, sondern drei Wochen gedauert. Drei Wochen, in denen ich mal mehr, mal weniger vom vorbereitenden Prozess des Gebärens in Anspruch genommen wurde. Der Prozess beinhaltet dann – klar – die Geburt selbst, die übrigens auch in der Schulmedizin nicht endet mit der Geburt des Kindes, sondern mit dem Ausscheiden der Plazenta, des sogenannten Mutterkuchens, der das Baby ernährt hat.

Ein leicht geöffneter, knospender Zweig


Die dritte Phase des Geburtsprozesses nach meinem Verständnis ist das Wochenbett. Es ist ganz und gar nicht klar abgegrenzt von der Geburt, denn das Ausscheiden setzt sich fort mit dem Wochenfluss, der in den ersten Tagen große Glibber von Blut und Schleim zu Tage fördert. Nachdem das Baby nun auf der Welt und sichtbar ist, beteiligt es sich am Ausscheiden mit seinem Darminhalt, den es im Mutterleib angesammelt hat: Dem Kindspech. Mutter und Kind ruhen beide und scheiden beide aus in diesen ersten paar Tagen. Es gibt noch keine nennenswerten Mengen an Muttermilch und beide verlieren Gewicht durch den Verlust an Wasser, Schweiß, Kot, Blut und Schleim. In der Menge ist dies weit mehr, als unter der Geburt anfällt. Dann schließlich beginnt die Milch zu fließen und mit ihr oft die Tränen. Das Baby wird agiler, beginnt die Geburt – manchmal durch schreien – zu verarbeiten und auch die Mutter verarbeitet sie und weint und ist sensibel und verzweifelt. Und all das gehört zur Geburt. Es sollte institutionalisiert sein wie man dem Reden und Verarbeiten Raum geben kann um die Frauen nicht alleine zu lassen mit dem, was da oft unerwartet auf sie einstürmt. Aber es gibt keine Strukturen und Rituale rund um dieses so weltbewegende Ereignis, die den Gefühlen der Mütter Rechnung tragen, welche einen Menschen gemacht haben. Ist das nicht wirklich, wirklich verrückt?

Im späten Wochenbett dann wird das Bluten weniger und das Kind und die Milch werden mehr und langsam kommen Mutter und Kind im Alltag an. Mein Wochenbett hat tatsächlich sechs Wochen gedauert. Keine sechs Wochen in denen ich im Bett liege, aber 40 Tage, in denen die Realität verschoben, in denen alles anders und nichts gefestigt ist. Bei der Geburt von Ronja war wenig Zeit für all diese Beoachtungen; das Wochenbett mit Emil konnte ich dafür umso intensiver erleben. Ich hatte stärkste Erlebnisse aber ich bin sehr dankbar dafür, dass ich sie diesmal zulassen und spüren konnte.

„Nur“ die Hormone?

Dieser gesamte Ausscheidungsprozess der Geburt wird gesteuert von Hormonen. Es sind „nur“ die Hormone sagt man oft, wenn man damit audrücken möchte, dass eine Frau sich grundloserweise unangemessen emotional verhält. Welch Unverschämtheit, sage ich. Zunächst: Die Männer haben Troja zerstört, „nur“ aufgrund der Hormone. Frauen hingegen haben fast immer eine Verbindung zur Produktion von Leben anstatt von Tod, wenn sie sich hormongesteuert verhalten. Also, so what?
Vor allem aber sollte man dieses „Nur“ wenn es um Hormone geht, nicht als ein verkleinerndes, relativierendes „Nur“ verstehen, sondern stattdessen als ein „nur“ das ermächtigt und alles umfasst: Es braucht nicht mehr als die Hormone, um diesen gesamten Prozess der Geburt perfekt zu steuern und es gibt ja keine andere Realität als die, die eben durch die Hormone geschaffen wird. Auch so ist das „Nur“ zu verstehen.

knospende Kirschzweige

Das Problem ist, das Männer und auch Frauen die nicht geboren haben, zu dieser hormongeschaffenen Realität des Geburtsprozesses keinen Zugang und insofern keinerlei Einblick haben. Und da unsere Welt der Medizin, unsere Alltagswelt und entsprechend auch unsere Kommunikation nunmal männlich-rational-quantitativ geprägt ist, hat das, was man nicht kennt, was sich nicht messen und quantifizieren lässt, wenig Existenzberechtigung. Man sieht das daran, das, wie gesagt, das Vokabular fehlt, um all dies angemessen zu beschreiben. Das beginnt bereits bei einem passenden Wort für den Geburtsschmerz (hörenwerte Gedanken dazu hat Kristin Graf in ihrem Podcast zur friedlichen Geburt. Zum Beispiel hier.) Es fehlen aber auch Strukturen, Rituale und institutionalisierte Prozesse, durch die den Empfindungen und Zuständen der Frauen vor und nach der Geburt Raum gegeben wird. Wir beglückwünschen zum Produkt, zum Kind und bieten allenfalls noch etwas Hilfe im Haushalt an. Das war es dann. Alles andere sind ja schließlich „nur“ Hormone.

Nicht gesehen werden macht einsam, wütend und vielleicht auch depressiv?

Dieses gesellschaftlich in seinem Zwischenzustand vor und nach der Geburt
nicht gesehen werden, nicht reden können, macht einsam und wütend. Es hat mich einsam und wütend gemacht, als ich in der Phase vor Emils Geburt immer wieder das Gefühl hatte, die Menschen kennen nur die „eigentliche“ Geburt, möchten nur von dieser hören und blenden es schlicht aus als nicht existent oder als nahe der Hypochondrie, wenn ich auf die Frage „wie geht´ s?“ den Versuch unternommen habe zu berichten, wie es eben geht. Ich war völlig in Anspruch genommen von dem, was da in mir vorgeht, von all den vielfältigen Prozessen und auch Schmerzen, die sich da abspielen und habe mich doch immer wieder dabei beobachtet wie ich das, was mit mir passiert, versuche vor der Außenwelt zu verbergen. Weil es keinen Raum dafür gibt, dass eine Geburt kein singuläres, klar definierbares Ereignis ist. Weil es keine Sprache gibt um die Mächtigkeit, Stärke, Schmerzen und die Naturgewalt des Geburtserlebnisses selbst zu beschreiben.
Gleiches gilt für das Wochenbett. Ich denke, dass Depressionen nach Geburt natürlich existieren und natürlich auch vielfältigste Ursachen haben können. Nachdem ich aber viele Frauen kenne, die mir, auch nach schönen Geburtserlebnissen, von einer Einsamkeit, von einem Alleine-gelassen-sein mit dem eigenen Erleben berichten, frage ich mich, ob es nicht auch die fehlende Sprache und die fehlenden Rituale sind, die manche Mütter depressiv werden lassen. Und weniger der Schlafmangel und die Wäscheberge. Lasst und reden. Ich beginne mit diesem Artikel.

Die Geburt meines zweiten Kindes dauerte neun Wochen.

Baby Emil ist da!
Unser Wochenbett ist beendet: Emil ist mittlerweile über zwei Monate alt und kommt mehr und mehr in der Welt an.

4 Gedanken zu “Wie lange dauert die Geburt des zweiten Kindes?

  1. Meinen allerherzlichsten Glückwunsch zur Geburt von Emil. Ich freue mich ganz besonders mit Euch, dass ihr in eurer Situation einem zweiten Kind Raum gegeben habt. Was für ein positives Signal auch nach außen. Und es werden noch viel mehr positive Signale, wenn ihr als Familie mit euren beiden Kindern, jeder mit seiner ganz besonderen Individualität, wahrgenommen werdet. Ich gehe davon aus, dass ihr zu wertvollen Ansprechpartnern werdet, seid ihr doch die „lebendigste Inklusion“, die man sich wünschen kann. Zwei Wunschkinder, zwei Kinder mit „uneingeschränkter Freude“ in der Familie empfangen ( so hast du die erwartete Geburt von Ronja damals beschrieben; diese deine wunderschöne Aussage habe ich nie vergessen) sind die wunderbarsten Vorraussetzungen, die Kinder beim Eintritt ins Leben bekommen können. Ich wünsche euch eine wunderschöne gemeinsame Kinderzeit , viele schöne Erfahrungen und eine weiterhin so positive Ausstrahlung wie bisher. LG

  2. Liebe Gundula,
    nochmal herzlichen Glückwunsch zu Eurem 2. Schatz!
    …und DANKE für Deine wichtigen Worte!!! Als Mutter von fünf Kids sprichst Du aus was ich schon sooft gefühlt, gedacht und erlebt habe.
    DANKESCHÖN 🙂 und ganz liebe Grüße.
    Verena

  3. Liebe Gundula,

    auch ich möchte mich den Glückwünschen zur Geburt eures Sohnes anschließen! Ich wünsche deiner gewachsenen Familie alles Gute 🙂

    Herzlichen Dank für diesen sehr lesenswerten Artikel, in dem du es geschafft hast sooo unglaublich viele Dinge in Worte zu fassen, die mir sowohl nach der Geburt unserer Tochter (4) als auch unseres Sohnes EMIL :-)) (3, mit DS) durch alle Zellen und Nerven meines Körpers schwirrten. Schwangerschaft und Geburt sind mit so unglaublich vielen neuen Eindrücken, Gefühlen, Gedanken, Prozessen bis hin zu neu gefundenen Wahrheiten und einem neuen Selbstverständnis und SelbstBEWUSSTsein verbunden, dass ich für mich sagen kann, dass ich vor den Kindern definitiv ein anderer Mensch war. Ich glaube es ist sehr schwer, dies Menschen zu vermitteln, die keine Schwangerschaft und Entbindung selbst erlebt haben. Mit diesem Blogpost hast du allen einen sehr persönlichen, aber doch auch in vielen Dingen allgemeingültigen Eindruck gewährt. Vielen Dank dafür! Mach bitte weiter so. Aber nun genießt erstmal die schöne Zeit als Familie.

    Viele Grüße aus Coburg
    Kathrin

    1. Liebe Kathrin,
      vielen Dank dir für die guten Wünsche und das Feedback. Da denkt man, wir seien so aufgeklärt und emanzipiert und dann gibt es dennoch do unendlich viel Sprachlosigkeit, wenn es um Geburten geht. Verrückt, nicht wahr?

      Beste Grüße

      Gundula

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