Der gestrige Beitrag und die Diagnose sind von mir frei erfunden. Persistierende Makro Mytitis ist eine aus dem griechischen abgeleitete Eigenkreation für „große Nase“ und existiert meines Wissens nicht als medizinische Diagnose.

Die Risiken, Krankheiten und Wahrscheinlichkeiten die ich zitiere beruhen auf echten Quellen und beziehen sich auf Geburt und Leben ganz „normaler“ Kinder und Familien. Bei einigen Statistiken bin ich davon ausgegangen, dass das, was für Kinder und Erwachsene allgemein gilt, unproblematisch auf solche mit „großer Nase“ übertragbar ist.
Die Quellen im Einzelnen:

Neue Studie So unglücklich macht Eltern das erste Kind
Jugendkriminalität – Zahlen und Fakten
Jugendliche trinken so wenig wie seit den 1970ern nicht mehr
Alkohol – Situation in Deutschland
Statistiken zu Übergewicht und Fettleibigkeit
Wo der Krebs wuchert

Ich habe damit letztlich ein Gedankenexperiment mit euch veranstaltet – ich hoffe ihr seid mir nicht böse für die Verwirrung.

Es geht mir um die Frage, wie weit unsere Sicht auf das „Normale“, auf Krankheit und Gesundheit geprägt sind von der Art der Vermittlung und den meist unausgesprochenen Bildern, Vorstellungen und Idealen, die in einer Gesellschaft existieren. Es gibt keine neutralen Fakten, die man unabhängig von dem geselschaftlichen Paradigma betrachten könnte, in welches sie eingebettet sind, das sollte dieser Beitrag zeigen.

Konkret bedeutet dies: Wer hätte das, was ich an erschreckenden Details zusammen getragen habe in Verbindung gebracht mit dem Aufwachsen und der Erziehung eines völlig duchschnittlichen Kindes?

Es scheint keine Verbindung zu geben zwischen dem Bild, das Medien und Werbung vom Familienleben vermitteln, in welchem insbesondere die Baby- und Kleinkinderzeit eine einzige Kuschelparty in Rosa oder Blau zu sein scheint. Und doch handelt es sich um ein und das gleiche Thema. Keine der Betrachtungsweisen eindeutlich falsch, beide schildern eben einen Teil der Wahrheit.

Könnten wir nicht so vieles gewinnen, wenn es gelänge, unseren Blick auf Gesundes und Krankes, Normales und Besonderes gleichermaßen zu differenzieren um die ganze Wahrheit in den Blick zu nehmen?

Wer so wie in meinem letzten Beitrag über das Kinderkriegen aufgeklärt wird, würde sich mit hoher Wahrscheinlichkeit gegen ein Kind entscheiden, nicht wahr? Dies ist der Hauptgrund, warum so wenige Kinder mit Down Syndrom leben dürfen. Es wäre so ermutigend für so viele Eltern, würde man ihnen im Vorfeld von all dem Wundervollen berichten, was sei erwartet, von all der Herzenswärme und bedingungslosen Liebe, die sie erfahren werden. Es wäre ein so großer Schritt, würde man bald das erste lächelnde Baby mit Mandelaugen in der Windelwerbung sehen.

Gleichzeitig aber gilt genauso: Wäre es nicht eine unheimliche Erleichterung für Eltern, wenn sie mit einem realistischen Bild vom Familienleben ausgestattet würden? Wenn man es Müttern und Vätern erlauben würde, die großen Belastungen gleichermaßen zu leben wie die großen Freuden, die mit dem Kinder kriegen verbunden sind ohne sie deswegen als Rabenmütter zu titulieren?

Ein Leben zu schenken, das ist ein sehr großer Schritt, wenn nicht einer der bedeutendsten Momente im Leben.

Machen wir uns etwas vor, wenn wir glauben, wir könnten es „unkompliziert mit unserem bisherigen Leben vereinbaren?“ Verdrängen wir erfolgreich die Tatsache, dass großes Glück immer nur dann möglich ist, wenn wir bereit sind in Kauf nehmen, dass auch unendliches Leid resultieren könnte? Wo Liebe ist, da wird auch Schmerz, Abschied und Trennung sein. Wer den Schmerz vermeiden will, der darf keine Liebe empfinden, der muss sein Leben in Vermeidung aller tiefen Gefühle, halblebendig an der Oberfläche führen.

Schwangerschaft und Geburt sind Naturereignisse von überwätigender Dimension. In dem wir uns vermehrt auf das niedliche, planbare, domestizierte dieser Ereignisse konzentrieren, verdrängen wir, dass Glück und Leid zusammen gehören und man das Eine nur erfahren kann, wenn man die Existenz seines Gegenstücks akzeptiert.

Jede zweite Geburt weltweit endet tödlich, mit einer Früh- oder Todgeburt, mit dem Tod des Kindes in den ersten Lebenswochen oder mit dem Tod der Mutter im Wochenbett, schreibt die Hebamme Ingeborg Stadelmann.

Diese Einsicht bedeutet nicht, Schwangerschaft zu einer Krankheit abzustempeln und sie soll auch Frauen keine Angst machen. Gott sei Dank haben wir eine so gute medizinische Versorgung in Deutschland, die viele Mütter und Kinder rettet. Diese Einsicht im Bewusstsein zu haben kann uns aber vielleicht von dem Druck befreien, eine Hochglanzschwangerschaft und Bilderbuchfamilie zu erwarten. Es kann Frauen vielleicht helfen, all die körperlichen und seelischen Veränderungen zu akzeptieren, die mit dem Kinder kriegen verbunden sind, es kann sie von dem Druck befreien, mit Kind uneingeschränkt glücklich sein zu müssen und es kann vielleicht eine Atmosphäre schaffen, in der über Unfruchtbarkeit, Fehlgeburten, Schmerz, Tod, Krankheit und Abtreibung genauso gesprochen werden kann wie über Baby´s ersten Zahn und seine ersten Schritte.

In den ersten 3 Monaten der Schwangerschaft erzählt man doch noch keinem davon, da das Risiko so hoch ist, eine Fehlgeburt zu haben.

Das habe ich selber im letzten Spätsommer und Herbst von ganz vielen gehört und ich habe mich immer gefragt: Ist das hohe Fehlgeburtsrisiko nicht eigentlich gerade ein Grund, von meiner Schwangerschaft zu erzählen? Brauche ich denn nicht gerade dann, wenn die Hormone verrückt spielen, wenn wir unser Kind vielleicht wieder verlieren, den Trost und Beistand von Freunden und Familie? Natürlich ist auch das wieder eine sehr individuelle Entscheidung, die jeder für sich treffen muss, aber prinzipiell ist doch eine Fehlgeburt nichts, dessen man sich schämen müsste oder das es zu verheimlichen gilt!

Tatsächlich sind die meisten Fehlgeburten, so habe ich erfahren, ein ganz natürlicher Vorgang, mit dem sich Kinder, die vermutlich nicht lebensfähig gewesen wären, einfach wieder aus dem Leben verabschieden.
Für mein Verhältnis zu Ronja bedeutet das: Sie ist bei mir geblieben mit Trisomie 21 und einem undichten Herzen und mein Körper hat sie angenommen. Die Entscheidung über Leben oder Tod wurde also vollzogen, lange bevor ich Gelegenheit hatte, rational mitzumischen. Die Entscheidung wird gut und richtig sein.

Vielleicht hilft uns diese Akzeptanz all des Schmerzhaften das mit Schwangerschaft, Geburt und Leben allgemein einhergeht, eine tiefere, erfülltere Bindung zu unseren Kindern zu schaffen. Ich habe das Gefühl, mich bringt die Sorge um unser Kind dem Kern des Elternseins näher.

Vielleicht bewirkt das Bewusstsein der Größe der Aufgabe, dass Eltern den Mut finden, sich von vornherein bewusst gegen Kinder zu entscheiden, wenn sie eben legitimerweise einen anderen Lebensweg gehen möchten.

Vielleicht führt diese Einsicht dazu, dass mehr Kinder leben dürfen die nicht der Norm entsprechen, weil man eben feststellt, dass es diese „Norm“ tatsächlich nur in der Werbung gibt, nicht aber im wirklichen Leben.

 

 

 

 

2 Gedanken zu “Nachtrag: Persistierende Makro Mytitis

  1. Liebe Mama von Ronja,

    was für ein toller Beitrag!! Ich bin über Soneasonnenschein auf dich aufmerksam geworden. Auch wir wussten seit der 11. SSW, dass Lukas mit Trisomie 21 zu uns kommen wird. Ihn deswegen nicht zu bekommen war für mich keine Option. Er wird ein anderes Leben haben, möglicherweise, aber auch ein Gutes. Ihm das zu verwehren, wer bin ich, das zu entscheiden. Lukas (9 Monate) hat noch zwei große Brüder, 5 und 2.5 Jahre alt. Mit dem ersten hat man Sorgen, mit dem zweiten hat man Sorgen und mit dem dritten hat man andere Sorgen. Und auf der anderen Seite machen alle drei uns große Freude. Wir lieben unsere Kinder, so wie sie sind. Für mich war es die absolut richtige Entscheidung, Lukas zu bekommen, das merke ich jedesmal, wenn ich ihn anschaue, halte, … Lukas hat ein Loch im Herzen, das Mitte April hoffentlich endlich geschlossen werden kann. Für die Geburt war es kein Problem, Lukas konnte im Geburtshaus zur Welt kommen. Wir waren danach eine Woche in der Kinderklinik, wo ich mit ihm im Zimmer sein konnte. Für uns der richtige Weg und absolut nicht Verantwortungslos, sondern ein Geraderücken, was eben doch mit einem Kind mit Trisomie 21 möglich sein kann.

    Ich wünsche euch alles alles Gute für die Ankunft eurer Tochter! (Wenn du Fragen hast, zum Stillen oder anderes, dann kannst du dich immer gerne melden!)

    Ganz liebe Grüße,
    Christina

    1. Liebe Christina,

      meine Hebamme hat mal zu mir gesagt: „Da wird die Ronja dir sehr dankbar sein, dass sie leben darf.“ Wir sind uns nämlich beide sicher, dass sie leben möchte, sonst hätte sie sich von alleine wieder verabschiedet. Gerade in den ersten Wochen der Schwangerschaft kommt das sehr häufig vor, dass Babys doch wieder gehen; deswegen das hohe Fehlgeburtsrisiko in dieser Zeit. Wenn Babys aus Krankheitsgründen abgetrieben werden, wird oft behauptet, man „lasse sie gehen“, das ist meiner Meinung aber nicht wahr. Denn „gehen“, das können Kinder auch ganz alleine. Die Babys, die bleiben, möchten also leben, so wie Ronja und Lukas. Ich bin eigentlich nicht sehr religiös, aber ich finde hier passt der Begriff: Ich halte es für Sünde, darüber entscheiden zu wollen, ob sie das dürfen. Und dass das Down Syndrom absolut nicht entscheidend dafür ist, wieviel oder wie wenig Glück man empfindet, das zeigen Eltern wie du ganz eineutig. Was die Geburt angeht, bin ich nach meinen letzten Erfahrungen (mein vorletzter Beitrag) auch dabei, mich nach einer anderen Möglichkeit umzuschauen, wo Ronja sicher, aber ohne unnötige Intervention zur Welt kommen kann. Mal sehen…
      Mit dem stillen komme ich im Zweifelsfall sehr gern auf dich zu. Ich habe schon von einer anderen Mutter gehört, dass die Ärzte ihr das Stillen wegen des angeblich zu schwachen Herzens quasi verbieten wollten. Und was war: Sie hat sich darüber hinweg gesetzt, ist nach ihrem Gefühl gegangen und das Baby (AVSD und DS) hat wunderbar getrunken und zugenommen…
      Ich wünsche euch für Lukas OP alles erdenklich Gute und vor allem euch ganz viel Kraft. Ich denke nämlich, der Lukas macht das schon ;-), schwer ist es vor allem für die Eltern.

      Alles Liebe

      Gundula

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