Es ist Mittag. Ich müffle mittlerweile leicht, denn ich bin seit heute morgen in demselben verschwitzten T-Shirt unterwegs, in dem ich geschlafen habe. Ronja hängt im Tragetuch an mir dran und schläft ein bisschen. Duschen und anziehen? Ist erstmal nicht dran zu denken, denn das arme Baby hat ein bisschen Fieber und mag gerade überhaupt nicht alleine liegen. Sie gibt ganz herzzerreißende Klagelaute von sich, sobald sie keinen Körperkontakt mehr hat. Also: Tagesprogramm umplanen. Heute ist Baby tragen und Baby stillen dran und darüber hinaus nur solche Tätigkeiten, die sich damit vereinbaren lassen. Da ich nicht raus kann (bin ja nicht angezogen!), nutze ich die Zeit für einen Beitrag.
Ronjas Fieber kommt vom Impfen.
Gestern war ich mit ihr zur U4 und da hat sie die dritte Dosis 6-Fach-Impfung bekommen (Diphtherie, Tetanus (Wundstarrkrampf), Kinderlähmung (Polio), Keuchhusten (Pertussis), Haemophilus influenzae Typ b (Hib) und Hepatitis B). Damit hat sie heute richtig zu kämpfen…
Wir halten uns, was das Impfen angeht, bisher an die Empfehlungen der STIKO.
Ich weiß, es gäbe einen unübersehbaren Wust an Literatur mit Argumenten gegen das Impfen oder zumindest für ein differenzierteres, anderes Impfprogramm als es die STIKO empfiehlt. Allerdings: Nachdem ich mich so gründlich über Ronjas Trisomie informiert habe, nachdem ich in der Schwangerschaft so damit gerungen habe, den für uns passenden Weg während Schwangerschaft und Geburt zu finden, teilweise entgegen ärztlicher Empfehlung und nachdem ich bis jetzt gedanklich und medizinisch so viel mit Ronjas Herzfehler zu tun habe, fehlt mir einfach die Energie, auch noch beim Thema „Impfen“ eine eigene Haltung zu entwickeln. Genauso war übrigens auch meine Einstellung zur Vitamin K Prophylaxe direkt nach der Geburt: „Macht halt, gebt es ihr einfach, es wird schon richtig sein. Und ich habe gerade auch nicht die Kraft, mich damit auseinander zu setzen“.
Matthias sieht das Impfthema weitaus kritischer. Vielleicht entscheiden wir bei den weiteren Impfungen (Mumps? Windpocken?) auch anders. Erstmal muss die arme Ronja jetzt aber ein bisschen Fiebern.
Dieses ist aber auch nur ein Nebenschauplatz. Hauptsächlich und eigentlich wollte ich von Ronjas Vorsorgeuntersuchung berichten. Wie gesagt, die U4 war dran. Ronja hat in ihrem Untersuchungsheft ein Häkchen bekommen bei „altersgemäß entwickelt“.
Ein bisschen schwache Muskeln habe sie, sagt die Ärztin. Aber dafür gehen wir ja zur Physiotherapie. Daran kann man arbeiten. Davon abgesehen ist Ronja aber, naja, eben „altersgemäß entwickelt“.
Ich freue mich darüber sehr. Es bestätigt mich in meiner Haltung, Ronja zunächst einmal alles zuzutrauen, Zusatzchromosom hin oder her. Wenn sie etwas nicht kann, dann ist das natürlich auch in Ordnung, aber das werden wir dann schon früh genug merken, ohne dass man ihr dieses oder jenes Defizit schon alleine aufgrund ihrer Gene Prophezeien muss. Einerseits.
Andererseits frage ich mich, warum dieses Häkchen so wichtig für mich ist. Als wäre es ein Test, den es zu absolvieren gilt. „Bestanden“ oder „Nicht bestanden“. Häkchen da, Häkchen weg. „Normal“ oder „mangelhaft“. Dass Ronja bis auf ihren Herzfehler gesund ist, darüber kann man sich natürlich freuen. Aber was wäre denn schlimm daran, schon bei der U4 bescheinigt zu bekommen, dass sie eben etwas länger braucht als andere Kinder? Eine Tatsache, mit der wir uns ja nun lang und breit auseinandergesezt haben und mit der ich, so dachte ich, eigentlich längst im Reinen bin?
Ist es ein falsches Leistungsdenken, von dem ich mich nicht verabschieden kann, welches bewirkt, dass ich mich derart über ein solches Untersuchungsergebnis freue, oder ist es einfach nur der legitime Stolz, die Fortschritte und gute Entwicklung meiner Tochter schriftlich attestiert zu bekommen?
Hat die Diagnose „Trisomie 21“ unser leistungsorientiertes Weltbild nur kurz erschüttert und kehren wir nun, da Ronja daund bisher ziemlich fit ist, zu eben diesem Denken wieder zurück, nur mit anderen Maßstäben? Orientieren wir uns immer noch an der Skala schlecht-mittel-gut, nur dass es nun eben, „schlecht für ein Kind mit Down Syndrom“, „normal für ein Kind mit Down Syndrom“, „gut für ein Kind mit Dwn Syndrom“ lautet? Warum ist das wichtig? Ist es mir überhaupt wirklich wichtig? Ist es schlecht, wenn mir das wichtig ist? Geht es langfristig überhaupt anders, ganz ohne Vergleichen? Ich weiß es nicht.