Wird ein Kind mit Down Syndrom später je selbständig leben können? Dies war eine der Fragen, die uns während der Schwangerschaft sehr häufig gestellt wurde und auch jetzt noch immer wieder Thema sind. Ich wollte dazu lange schon mal etwas schreiben. Nachdem wir am Wochenende endlich den Film „Me too“ mit Pablo Pineda angesehen haben, musste ich über diese Frage wieder häufiger nachdenken. Drei Aspekte dazu sind mir immer wieder durch den Kopf gegangen. Dieser Beitrag ist das Ergebnis meiner Gedanken. 

Erstens: Zunächst mal muss ich vorausschicken: Ich bin mir sehr bewusst darüber, dass keiner es böse meint. Ferner halte ich es durchaus für gefährlich, Fragen zum Down Syndrom, ganz egal welche, als „dumm“ oder „verletzend“ zu klassifizieren. So etwas führt verständlicherweise oft dazu, dass gar nicht mehr geredet oder gefragt wird. Und schließlich möchte ich nichts weniger, als Rede-, bzw. Frageverbote zu erteilen.

Aber dennoch, mal ganz ehrlich und frei von der Seele weg geschrieben: Die Frage nervt. Sie nervt vor allem deshalb, weil ich oft das Gefühl habe, dass häufig gar kein eigenes, persönliches Interesse dahinter steckt.

Vielmehr wirkt es auf mich so, als sei dies einer der Kommentare, die man nunmal schon oft über das Down Syndrom gehört hat und dann, in der passenden Situation und in Ermangelung einer geistreicheren Erwiderung, einfach mal wiederholt. Weiter nervt mich diese Frage, weil dabei durch die Art und Weise des Fragens künstliche Gegensätze oder unterschiedliche Lebenswelten erschaffen werden, die in der Form eigentlich gar nicht existieren. Die richtige Antwort ist nämlich folgende:

„Ich weiß nicht, wie selbständig Ronja mal leben wird. Wir tun, was wir können, um sie auf das Leben vorzubereiten. Wir möchten, dass sie später so gut klarkommt wie möglich, auch wenn wir mal nicht mehr leben. Aber geht euch das nicht genauso? Wisst ihr denn ganz sicher, wie selbständig euer Kind mit 46 Chromosomen mal sein wird?“

Meine etwas ausführlichere Antwort lautet weiter: „Ja, es kann sein, dass Ronja auch noch ein paar Jahre bei uns wohnt, nachdem sie 18 Jahre alt geworden. Wir können das so schlimm nicht finden. Hofft ihr denn tatsächlich seit der Geburt eures Kindes auf den Tag, an dem es endlich wieder aus eurem Leben verschwindet? Ist man sich, wenn man Kinder bekommt, nicht eigentlich prinzipiell der Tatsache bewusst, dass man diese Verantwortung im Normalfall nicht mit deren Volljährigkeit abgibt, ganz egal, ob die Kinder 46 oder 47 Chromosomen besitzen?“

Der etwas zynische Nachsatz meiner Antwort schließlich ist folgender: „Den Nachwuchs zu finanzieren, bis er irgendwann mit 30 mal fertig studiert hat, ist scheinbar völlig selbstverständlich. Wenn es aber darum geht, für ein „behindertes“ Kind länger da zu sein, dann rücken die Eltern, die dies leisten, in den Augen ihrer Mitmenschen gleich in die Nähe von Mutter Theresa in punkto Aufopferung und ernten großes Staunen, Respekt und betretenes Schweigen aufgrund des schweren Schicksals. Messen wir hier nicht ganz massiv mit zweierlei Maß?“

Zweitens: Wir müssen unterscheiden lernen zwischen Erwachsen-Sein, Autonomie und der Fähigkeit, selbständig zu leben.

Diesen Unterschied zu verstehen, hat mit der Film „Me too“ sehr geholfen. Und zwar geschieht Erwachsen-Werden bei jedem Menschen durch die Erfahrungen, die er sammelt, durch die Jahre, die er auf der Welt ist und AUCH (nicht ausschließlich) durch den rein körperlichen Reifungprozess. Auch bei Menschen mit Down Syndrom. Erwachsen ist man dann eben irgendwann, auch wenn man bis dahin noch nicht rechnen gelernt hat und auch, wenn man es vielleicht nie lernen wird.

Einem solcherart erwachsen gewordenen Menschen das Erwachsen-Sein absprechen zu wollen, weil es ihm an dieser oder jener Fähigkeit mangelt, ist Würde verachtend. Es ist falsch und respektlos zu sagen, ein Mensch (oder ein Kind) sei auf dem Stand eines „so-und-so-alten“ Kindes.

Ganz egal, wieviel oder wie wenig dieser Mensch kann: Er hat „so-und-so-viele“ Jahre gelebt und er ist immer genau auf dem Stand dieser erlebten Lebensjahre. Dem entsprechend gehört er respektiert und behandelt.
Aus diesem Erwachsen-Sein erwächst dann das Bedürfnis nach Autonomie. Bei „Me too“ steht das Bedürfnis junger Erwachsener nach sexueller Autonomie  (stellvertretend für weiteres Autonomiestreben) im Vordergrund. Wie man damit respektvoll und würdevoll umgeht, ist ein eigenes, spannendes Thema, über das es lohnt, nachzudenken.

Der Wunsch nach Autnomie in einem etwas weiteren Sinne schließlich umfasst meist auch die Fähigkeit, selbständig zu Leben. Diese wird aber maßgeblich bedingt durch unsere Umwelt und die herrschenden Rahmenbedingungen. Schon jemand, der kein Deutsch kann und die lateinische Schrift nicht beherrscht, ist nahezu unfähig, in unserer Gesellschaft ein selbständiges Leben zu führen. Stempeln wir ihn im Normalfall deswegen als Schwachsinnig oder gar ewiges Kind ab? Natürlich nicht, nein, sondern wir bemühen uns, ihm gezielt in den Bereichen, in denen Unterstützung braucht, zu assistieren. Genau dies sollte auch für Menschen mit Down Syndrom gelten.

Wir können Menschen, deren Gehirn vermutlich anders funktioniert, von vornherein als unfähig abstempeln. Oder wir können versuchen, unsere Welt, die für „neurophysiologische Normgehirne“ geschaffen wurde, so anzupassen, dass es sich darin auch mit Trisomie 21 leichter leben lässt.

Inklusion bedeutet das Bemühen, unsere Gesellschaft so zu gestalten, dass ein weitestgehend selbständiges Leben für alle Menschen im Rahmen ihrer Fähigkeiten möglich ist. „Wird ein Kind mit Down Syndrom später je selbständig leben können?“ Wenn wir diese Frage pauschal mit einem „ja, weitgehend“ beantworten können, dann sind wir gut vorankommen mit der Inklusion.

Drittens: Der Film „Me too“ wirft in Bezug auf Selbständigkeit eine Perspektive auf, über die ich bisher noch kaum nachgedacht habe.

Und zwar wird es ja meist so dargestellt (siehe oben), als wäre die „lebenslange Verantwortung“ für ein behindertes Kind, so sie denn tatsächlich gegeben ist, eine besondere Bürde für die Eltern. In Pablo Pinedas Film ist es im Falle einer jungen Frau mit Down Syndrom nun aber deren Mutter, die absolut nicht loslassen WILL. Sie scheint die Behinderung ihrer Tochter und ihre Rolle als unverzichtbare, pflegende und sorgende Mutter so verinnerlicht zu haben, dass sie Teil ihrer eigenen Identität geworden ist, auf die sie nicht mehr verzichten kann. Dass die mittlerweile 24-jährige Tochter trotz Einschränkungen kein Kind mehr ist, sondern eine junge Frau mit entsprechenden Autonomie-Bedürfnissen, kann sie nicht erkennen und akzeptieren.

Ist das vielleicht die interessantere Frage für uns Eltern, die ein Kind mit Down Syndrom erziehen?

Geht es vielleicht weniger darum, wie selbständig unsere Kinder aus sich heraus mal werden, sondern eher darum, wie selbständig wir sie trotz und mit Handicap mal werden lassen?

Liegt nicht die eigentliche Herausforderung darin, ihnen ausreichende Autonomie, Erwachsen-Sein und Würde zu ermöglichen und sie niemals als Kinder auf dem Stand eines „so-und-so-alten“ abzustempeln, obwohl sie vielleicht in mancherlei Beziehung dauerhaft auf Hilfe angewiesen sind?

 

 

3 Gedanken zu “Wird ein Kind mit Down Syndrom später je selbständig leben können?

  1. Ihr Lieben,

    ich frage mich immer mehr, warum unsere Kinder überhaupt etwas „müssen“. Wir haben neben Marlene (9 und DS) noch zwei jüngere „normale“ Jungs. Und es ist bei allen dreien nicht einfach, sie selbständig zu machen. Aber letztlich ist das auch egal, weil es einfach bei allen schön ist, dass sie da sind. Wenn wir an Marlenes Geburtstag singen „Wie schön, dass Du geboren bist, wir hätten Dich sonst sehr vermisst“, denke ich jedes Mal, dass wir sie wirklich vermisst hätten in unserem Leben.
    Lasst Euch keinen Druck machen. Es reicht einfach, wenn Ronja da ist.
    Ich dachte nach Marlenes Geburt, dass der Vorteil ist, dass wir mit ihr wenigstens aus dem Leistungsdruck raus sind. Aber so ganz subtil besteht der Druck eigentlich viel stärker, weil unsere Kinder total unter Beobachtung stehen.

    Ich wünsche Euch viel Kraft für die OP-Zeit. In unserer Wahrnehmung haben die Schicksale in den Nachbarbetten einiges gerade gerückt. bei Marlene musste ja schließlich eine künstliche Mitralklappe eingesetzt werden, deren Wechsel demnächst ansteht. Letzte Woche haben wir noch mal wieder Aufschub bekommen.
    Alles Gute für Euch!

    Alexandra

    1. Liebe Alexandra,

      „Wie schön, dass du geboren bist, wir hätten dich sonst sehr vermisst“ – das passt auch sehr gut für Ronja. Nein, sie soll nichts müssen. Aber es kann sein, dass sie selbständig sein will. Darin wollen wir sie unterstützen.

      Die Schicksale in den Nachbarbetten relativieren sehr, sehr viel. Da hast du recht. Im Krankenhaus habe ich mich mit Ronja bisher oft in einer anderen Welt gefühlt, in der die Verhältnisse umgekehrt sind und sie das (im Vergleich zu den anderen) gesunde und fitte Kind ist. Aber dass es anderen noch schlechter geht, bedeutet nicht, dass ihr und Marlene nicht auch einiges durchmachen müsst.

      Wir wünschen alles, alles Gute für die bevorstehende OP bei euch!!!

      Gundula

  2. Guten Abend,
    wenn ein Erwachsener nicht selbstständig leben kann, muss er /sie ja nicht unbedingt für immer bei den Eltern leben und vor allem dabei nicht unglücklich werden. Meine 17 jährige (kein DS, andere Behinderung) sieht ihre Zukunft ganz selbstbewusst und zuversichtlich in einer Wohngruppe. Viele ihrer Bekannten leben in Wohngruppen und arbeiten ihn Werkstätten, für sie ist das kein Schreckensszenario oder gar Versagen, es ist normal.
    Vieles findet sich auf dem Lebensweg und wahrscheinlich ist „das wird sich finden“ die gelassenste Antwort auf den Club der Schwarzmalenden.
    Ihr Kind ist noch soooo klein (und soooo süß…?
    Natalie

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