Imperfection. Die Unvollkommenheit, der Mangel, die Unvollständigkeit, die Fehlerhaftigkeit, oder kurzum: Das alltägliche eigene Scheitern daran, als Mutter alles perfekt zu machen.

Seit einigen Tagen ist Ronja wieder richtig fit.

Teilweise fitter als vor der OP. Sie zappelt beim wickeln mit allen Gliedmaßen und versucht sich, egal aus welcher Position heraus, mit aller Macht auf den Bauch zu drehen. Sie windet sich auf dem Hochstuhl beim essen, patscht mit Begeisterung mit beiden Händen nach der Breischüssel oder zielsicher direkt in den Löffel. Und wenn ihr etwas nicht passt (anziehen, Brei schmeckt nicht, Mama geht in einen anderen Raum…), dann SCHREIT sie mit großem Elan und komplett gesunder Lunge PROTEST.

Ronja spielt mit ihren Füßen
Der Versuch, ein putzmunteres Baby zum schlafen zu bewegen…
Je weiter sich die großen Sorgen von uns entfernen, desto stärker erlebe ich die Herausforderungen des Alltags mit einem gesunden, lebhaften Kleinkind.
Imperfection, wo man nur hinsieht. Zum Beispiel heute…

Morgens, 09:15: Ronja macht mich wach, weil sie Hunger hat. Das große Glück, das ich beim Blick auf die Uhr empfinde, verschwindet schlagartig, als mir klar wird, dass wir in exakt 15 Minuten einen Augenarzttermin haben. Unmöglich schaffbar. Kleinlaut rufe ich in der Praxis an: „Wir haben verschlafen…“. „Kommt vor“, ist die Antwort. Wir dürfen eine Stunde später kommen. Eine Stunde zum fertigmachen klingt nach viel Zeit. Für mich und Ronja ist es am Rande des schaffbaren.

Es beginnt mit der Frühstücksfrage.

Brei essen schaffen wir im Leben nicht mehr (siehe oben), deswegen wird Ronja gestillt. Sie trinkt etwas, mag dann nicht mehr, wird gewindelt, angezogen und zum spielen auf den Boden gelegt.
Brei müssen wir mitnehmen. Normalerweise bekommt sie Vormittags etwas herzhaftes. Gemüse, Rindfleisch, Kartoffeln, etwas in der Art. Gesund eben. Manches Gemüse allerdings schmeckt ihr manchmal nicht. Das möchte ich unterwegs nicht riskieren. Also gibt es süßen Brei. Mango-Hirse, das geht immer. Während ich packe, kommt lautes Geschrei aus dem Spielzimmer. Ronja hat sich weh getan. Oder sie hat nochmal Hunger. Oder beides. Egal. Ich stille sie nochmal, das tröstet und sättigt in einem. Während Ronja trinkt, habe ich die Uhr im Blick. 09:55 mittlerweile.

Ronja isst Brei
Breeeeiii, essen ist nichts, was mit Ronja unter Zeitdruck funktioniert
Baby warm anziehen, Tasche packen, mich selbst anziehen, 15 Minuten Fußweg, das müssten wir noch schaffen, kalkuliere ich (duschen habe ich relativ frühzeitig und emotionslos schon von der Wunschliste gestrichen).

Ronja trinkt ausgiebig. 10:06 ist es, als sie fertig ist. Ich lege sie auf den Boden hetze ins Bad. Wenn der Babybauch voller Milch ist und dann Druck auf selbigen ausgeübt wird, kommt die Milch wieder raus. Auf-den-Bauch-drehen erzeugt Druck. Mein Kind liebt es, auf dem Bauch zu spielen. Als ich nach Ronja sehe, hat Kind ordentlich gekotzt und sich zwei, dreimal in der Kotze herumgewälzt. Milchkotze in den Haaren, am Body, an den Händen, überall. Es ist 10:11. Es gab mal eine Zeit, da habe ich nicht verstanden, warum Mütter einfach nicht auf die umweltschädlichen, Babyhaut reizenden Feuchttücher verzichten können. Spätestens jetzt, um 10:11, verstehe ich es.

Nachdem Ronja notdürftig feuchttuch-rein ist (den Body habe ich so gekrempelt, dass man die Kotze an den Ärmeln nicht sieht), stelle ich fest, dass sie auch nach Kotze riecht. Trotz Feuchttuch. 10:14. Keine Zeit für Empfindlichkeiten. Wir ziehen den Schneeanzug drüber, dann riecht man nichts mehr. Ich lasse Ronja kurz liegen, hole selbst Schuhe und Mantel, komme zurück, und siehe da: Kind kotzt. Auf den Schneeanzug, auf die Brille. Alles ist überzogen mit krümeliger weißlicher Milchkotze. Es ist 10:18.

Ronja mit Schnuller
Ronja beginnt am Daumen zu nuckeln. Wir versuchen, ihr den bisher verpönten Schnuller schmackhaft zu machen.
Um 10:19 hetze ich ungeduscht, mit einem schlammbespritzen Kinderwagen (wollte ich irgendwann mal sauber machen…) und einem vollgekotzen Kind darin aus dem Haus.

In der Tasche habe ich Mango-süßen Brei, der ihr sicherlich auf Dauer die Geschmacksnerven verderben würde, eine große Ladung Feuchttücher (NEIN, MAN KANN KEINE WASCHLAPPEN BNUTZEN) und natürlich ganz normale Wegwerfwindeln. Immerhin schaffen wir es mit nur 3 Minuten Verspätung in die Arztpraxis. Was wir wohl für einen Eindruck machen – die Frage stelle ich mir schon ein bisschen und versuche, mein Kind notdürftig mit noch mehr Feuchttüchern zu reinigen. Während ihr Gesicht gereinigt wird, kommt Ronjas Verdauung in Gang und sie produziert eine maximal stinkende Windel. Wickeln dürfen wir in einem Abstellzimmer, aber wohin wirft entsorgt man in einer gut gepflegten Arztpraxis eine überquellende, maximal stinkende Windel?

Mein vollgekotztes Kind liegt neben dem schlammbespritzen Kinderwagen auf meiner Jacke (die übrigens auch Flecken hat, wie ich gerade feststelle) auf dem Boden einer gutbesuchten Arztpraxis, die überwiegend von älteren, sehr gepflegt wirkenden Ehepaaren besucht wird.

Ich stehe ratlos daneben, in den Händen die volle, stinkende Windel, die ich nicht einfach im Wartezimmer entsorgen möchte und sehne mich nach einem Kaffee.

Imperfection. Die Unvollkommenheit, der Mangel, die Unvollständigkeit, die Fehlerhaftigkeit, oder kurzum: Das alltägliche eigene Scheitern daran, als Mutter alles perfekt zu machen.

Eigentlich geht es uns ziemlich gut.

13 Gedanken zu “Imperfection

    1. Was mit der Windel passiert ist? Eine Sprechstundenhilfe hat eine andere gefragt, wie am besten mit der Windel zu verfahren sein. Diese hat eine dritte zu Rate gezogen. Schließlich haben sie beschlossen, dass es 2 Stockwerke tiefer, einmal um die Ecke, im Hinterhof einen Container gibt, wo ich die Windel hinbringen darf. Selbstverständlich mit Baby unerreichbar.
      Ich hatte das Glück, zufällig eine Freundin in der Praxis zu treffen. Die hat die korrekte Entsorgung netterweise übernommen.

  1. Ich liebe Eure Seite, Ronja ist zum fressen süss und Deine heutige Geschichte hat mich an die Zeit mit unserer Kleinen erinnert 😉 habt einen schönen tag, Andrea

  2. Liebe Gundula, mein schlechtes Gewissen plagt mich, weil ich euch so gerne sehen würde und es haut einfach nicht hin. Ronja ist perfekt und ich lese alles was du schreibst. Aber heute? Ich habe so gelacht das ich einfach zurück schreiben muss. Herrlich!!!
    Die Situation hatte ich direkt vor Augen und hab mich mitfühlend amüsiert.
    LG Renata

  3. Auch ich musste heute sehr laut lachen, als ich deinen Bericht gelesen hatte, liebe Gundula. Willkommen im Alltag sage ich nur und obwohl ich ja schon 3 Erwachsene und 5 kleinere Enkelkinder habe. Aber alles wiederholt sich bei allen Menschen und das ist doch gut so. Trotzdem finde ich es toll, wie du mit der süßen Ronja „normal“ bleibst und improvisieren kannst. Ich wünsche dir und Ronja noch viele solcher Tage, sonst wäre es doch langweilig im Leben.
    Und….ich gebe dir Brief und Siegel darauf, dass du auch irgendwann wieder gepflegt und gut riechend in der Augenarztpraxis sitzen wirst! Alles zu seiner Zeit! Ich freue mich schon auf deine nächsten Zeilen und grüße euch ganz herzlichst als Oma Karin.

  4. Köstlich geschrieben- dankeschön.
    Manche junge Mama würde sich wünschen soooo lange zu schlafen.
    Unperfektion ist doch so normal. liebe Grüße und eine erlebnisreiche Woche
    voller Überraschungen

    1. Liebe Kerstin,

      ja, ich weiß. Ronjas Schlafenszeiten sind wirklich Luxus. Meine Hebamme hat mir mal den Tip gegeben, speziell gegenüber anderen, übernächtigten Müttern nicht davon zu sprechen, wie entspannt es mit Ronja in der Beziehung ist. Es könne die Mütter ernsthaft aggressiv machen…
      Nach dem eigenen Schlafentzug im Krankenhaus weiß ich, wie man sich fühlt und glaube ihr aufs Wort…

  5. Liebe Gundula,
    habe grade herzhaft gelacht. Es kommt mir so herrlich bekannt vor. Neulich bei uns: die Große soll pünktlich in den Kindergarten. Aber anstatt sich anzuziehen und einfach mal los zu gehen, muss die Puppe aber erstmal noch ihr Outfit wechseln. Und dann ist die Puppe endlich fertig,die Große hat alles an, du selbst auch … und dann hebst du die Kleine hoch und riechst das Elend schon … also, noch mal Wickeln. Und das alles in Winterklamotten. In der Zwischenzeit hat sich die Große wieder ausgezogen … und ihre Puppe natürlich auch. Weil die hat jetzt natürlich auch eine Windel produziert…

    Und jetzt noch ein Tipp von Mami zu Mami. Windelbeutel bei deinem örtlichen Drogerienarkt kaufen. Zwei übereinander stoppen Gerüche und lassen Vieles in der Wickeltasche verschwinden, um dies dann später vor der Tür zu entsorgen. Eignen sich übrigens auch für vollgespuckte oder anderweitig versaute Kleidungsstücke.

    Liebe Grüße aus dem verschneiten Rheinland
    Kirsten

  6. Liebe gundula,
    Ich wollte dir schön längst mal schreiben,dass ich von deinem Blog total begeistert bin und mich immer freue,von euch zu lesen.
    Dieser Post gefällt mir auch wieder sehr,weil ich mich so gut hineinversetzen könnte. Mir ging es ähnlich,nur so lange haben mich meine beiden Söhne nie schlafen lassen (so jedenfalls in meiner Erinnerung)…
    Und ich kann mich dem Tip von meiner vor-Kommentatorin nur anschließen. Einfach die stinkerwindel in eine windeltüte bzw. in 2 Tüten und dann zurück in die Tasche und zu Hause entsorgen. Mach ich auch immer so. Mein Sohn mit DS ist 6 Jahre und trägt noch Windeln. Ich hoffe diesen Sommer packen wir es…
    Nochmal zu deinem Blog. Ich fand auch deine Gedanken zum Thema Pflegegrad sehr interessant und hat mich zum nachdenken angeregt. Vielen deiner Ausführungen stimme ich voll zu. Toll fand ich auch deinen Post zum selbstbestimmten Leben. Was uns Eltern ja auch immer wieder beschäftigt bzw. auch oft zum Thema in irgendwelchen meist oberflächlichen Gesprächen wird.
    Bitte schreibe weiter deine Gedanken auf,ich freue mich drauf,
    Viele Grüße
    Ulrike

    1. Liebe Ulrike,

      es berührt mich immer wieder, so ein persönliches und ausführliches Feedback zu bekommen von Menschen, die mit uns „nur“ über den Blog verbunden sind. Ich weiß sehr gut, welche Art Oberflächlicher Gespräche du meinst. Ich versuche, mich bewusst und willentlich nicht als Sprachrohr zu verstehen, sondern bemühe mich, so weit wie möglich nur bei dem zu bleiben, was ICH erlebe und fühle. Umso schöner ist es, wenn ihr euch dennoch in vielem wieder finden könnt.

      Alles Liebe an deinen Sohn und wir drücken die Daumen für einen windelfreien Sommer!

  7. Perfektion…
    die perfekte Mutter…
    wäre für die Erzieherin/Therapeutin/Lehrerin/Ausbilderin meiner „besonderen“ Tochter anders gewesen als ich war…
    war ich nicht für meine besondere Tochter und ihre drei Schwestern…
    will ich eigentlich sein – wollte ich sein – war ich nicht – will ich gar nicht sein – vielleicht aber doch…oder auch nicht…
    war meine Oma – und war es natürlich nicht – für ihre acht Kinder…
    oder meine Mutter für ihre zwei – was sie die perfekte Zahl Kinder findet…
    oder meine Uroma für ihre fünf Kinder…
    die meisten von uns versuchen die perfekte Mutter für unsere Kinder zu sein…
    aber wenn Frau/Mutter perfekt ist könnte sie nicht mehr besser werden…
    und das wäre ziemlich schrecklich – finde ich…

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