Wir haben heute den Arztbrief zu der erfolgten „genetischen Beratung“ erhalten. Da unsere normale Schwangerschaftsvorsorge, der Feinultraschall sowie die Fruchtwasserpunktion und Beratung in unserem Fall in einer gemeinsamen Praxis stattfinden, geht der Brief nicht von Arzt zu Arzt, sondern direkt an uns.

Ich bekomme zum Thema „Beratung“ zu lesen:

„Jede Schwangerschaft ist mit einem gewissen Grundrisiko für Behinderungen verbunden. Dieses Basisrisiko wird auf 3-5% beziffert; es bedeutet, dass 3-5 von 100 Kindern mit körperlichen und/oder geistigen Anomalien zur Welt kommen, ohne dass Ursachen für diese Behinderungen erkennbar sind. Durch eine differenzierte Ultraschalluntersuchung in der 20.-24. SSW [=Schwangerschaftswoche, Anmerkung von mir] können schwerwiegende Fehlbildungen erkannt werden, das oben genannte Basisririko kann jedoch nie voll eliminiert werden.“

Das Basisrisiko kann nie voll eliminiert werden?? Es kann überhaupt nicht eliminiert und auch durch keine Untersuchung der Welt wesentlich verringert werden, denn für die allermeisten Fehlbildungen oder Auffälligkeiten, die man im Feinultraschall erkennt, gibt es vorgeburtlich keinerlei Therapie! Mit „Risiko eliminieren“ ist gemeint die „Risiken“ zu töten, nichts anderes. Wenn es gelingt, das „Basisrisiko voll zu eliminieren“ dann bedeutet das, dass sämtliche Kinder mit Auffälligkeiten oder Behinderungen getötet werden, bevor sie auf die Welt kommen. Mein Kind steht dem Projekt „Basisrisiko eliminieren“ ziemlich im Wege.

Weiter lese ich zum Thema „Down Syndrom „:

„Nur bei Translokationstrisomien besteht eine echte Erblichkeit und ein wesentlich erhöhtes Wiederholungsrisiko [Anmerkung von mir: Trifft auf uns nicht zu, Ronja hat eine sogenannte freie Trisomie]. […] Dennoch ist [bei der freien Trisomie] das Wiederholungsrisiko leicht erhöht gegenüber Frauen, die noch keine Schwangerschaft mit einer Trisomie 21 hatten. Es wird je nach Alter mit 1-3% angegeben, so dass in den Folgeschwangerschaften – unabhängig vom mütterlichen Alter – ebenfalls eine vorgeburtliche Chromosomenanalyse angeboten werden sollte.“

Es sollte also keine Beratung über Förderung und Inklusion von Kindern mit Down Syndrom stattfinden, keine Kontaktvermittlung zu Eltern, Verbänden, Beratungsstellen, integrativen Krippen und Kindergärten, sondern es „sollte eine Chromosomenanalyse angeboten werden“. Ist ja nur folgerichtig, denn nur mithilfe einer Chromosomenanalyse lässt sich das „Basisrisiko eliminieren“, also das Kind bei entsprechender Diagnose töten.
Es geht weiter:

„Mögliche Merkmale eines Down-Syndroms sind außer Herzfehlern (ca. 50% aller Kinder) auch angeborene Fehlbildungen des Magen-Darm Traktes […], Muskelhypotonie, Infektneigung, Augenveränderungen und orthopädische Probleme infolge einer allgemeinen Bindegewebsschwäche. Es liegt eine Intelligenzminderung vor, die üblicherweise auch im Erwachsenenalter ein betreutes Umfeld erforderlich macht. Bei entsprechender Förderung sind die Kinder aber meist gut bildbar und haben subjektiv eine hohe Lebensqualität.“

Kann ich irgendeine Mutter auf dieser Welt verurteilen, wenn sie sich aufgrund eines solchen Tonfalls in der Beratung und Aufklärung gegen ihr Kind entscheidet?

Was bitte, ist eine „subjektiv hohe Lebensqualität“? Das klingt, als gäbe es auch eine objektiv messbare Lebensqualität, die meinem Kind leider verwehrt bleibt; die gibt es aber nicht.
Da bei mir ja Gott sei Dank keine „allgemeine Intelligenzminderung“ vorliegt, weiß ich natürlich, dass ich hier aus einem Dokument zitiere, was eigentlich von Arzt zu Arzt geschrieben wird. Ein Dokument also, das sich nicht direkt an die Eltern richtet. Ich weiß auch, dass die Ärzte angehalten sind, durchaus Kontaktdaten zu Beratungsstellen zu vermitteln und Informationsmaterialien an betroffene Eltern herauszugeben. Dies ist in unserem Fall auch geschehen. Ich mache weiter unserer Praxis und unseren Ärzten noch nicht einmal einen Vorwurf für den Tonfall dieses Briefes. Wir fühlen uns im persönlichen Umgang wertgeschätzt und gut betreut. Diese Art der Formulierung entspricht anscheinend leider einfach dem „Standard“.

Selbst meine „intelligenzverminderte“ Tochter würde aber erkennen, welch menschenverachtende Haltung dahinter steckt, wenn man von ihr als einem „Basisrisiko“ spricht, welches sich nicht „voll eliminieren“ lässt.

Worte und Formulierungen bewirken etwas, egal in welchem Kontext, und zwar auch, wenn sie nur zwischen Ärzten ausgetauscht werden.

„So ist nun mal der allgemeine medizinische Jargon“, könnte man mir entgegenhalten, „auch wenn es um ein gebrochenes Bein geht, ist die Art der Sprache schließlich sehr kühl und medizinisch“. Das ist wahr, auch wenn es nicht gut ist. Der große Unterschied zu einem gebrochenen Bein besteht hier allerdings darin, dass die Art der Sprache und der Aufklärung entscheidend dafür ist, ob Kinder wie mein Baby leben dürfen, oder nicht.  Die Diagnose eines komplizierten Knochenbruches beinhaltet kein Werturteil über das Recht des Patienten auf Leben. Die reine Aufzählung der möglichen medizinischen Probleme sowie der „Intelligenzminderung“ eines Kindes mit Down Syndrom hingegen bewirkt in letzter Konsequenz genau dies: Eine Beurteilung seines Wertes in dieser Welt, insbesondere wenn eine solche Aufklärung direkt gekoppelt wird mit dem Angebot einer Chromosomenanalyse, in deren Folge ein  Kind bei Vorliegen einer Trisomie 21 in 95% aller Fälle getötet wird.

Was ist das für eine Welt, in der 2 verrückte Narzissten uns jederzeit mit einem Atomkrieg überziehen könnten, in der sich die Menschen an so vielen Orten gegenseitig bestialisch abschlachten, in der es uns in der westlichen Welt nicht gelingt so zu leben, dass wir nicht durch maßlosen Ressourcenverbrauch unseren eigenen Untergang herbeiführen und mir sagt man, mein Kind sei „intelligenzgemindert“?

Die Frage ist doch, wem es hier tatsächlich an Intelligenz mangelt.

Angesichts all dessen, was all die intelligenten Menschen auf dieser Welt anrichten, ist es da nicht vielleicht ein großer Vorteil, eine solche Art der Intelligenz nicht im Übermaß zu besitzen?

Ich möchte nicht einstimmen in die mantraartige Wiederholung der Tatsache, dass „diese Kinder“ ja „solche Sonnenscheine“ sind, wage aber dennoch zu behaupten, dass mein Kind, auch aufgrund seiner Behinderung, keinen anderen Menschen bewusst verletzen, ausbeuten, foltern, herabsetzen oder töten wird. Ich wage zu behaupten, dass durch mein Kind sehr viel mehr Gutes und viel mehr Liebe in die Welt kommt als durch viele andere Menschen, die vor Intelligenz nur so strotzen.

Wie intelligenzvermindert ist es da eigentlich, ein solches Kind nicht willkommen zu heißen?

Ich leide nicht unter der Tatsache selbst, dass Ronja das Down Syndrom hat (immerhin ist sie ja „bildbar“) aber ich leide darunter, mit solch abwertender Form der Aufklärung und Diagnostik umgehen zu müssen. Ich leide unter der Art, wie Menschen teilweise mit betretenem Schweigen auf die Diagnose reagieren und ich leide darunter, als große Ausnahme dazustehen, obwohl Kinder wie Ronja, würde man sie nicht selektieren, Normalität sein sollten.

Wir als Eltern sollen Verständnis haben, dass es für viele Menschen im sozialen Umfeld schwierig ist, angemessen auf eine solche Diagnose zu reagieren, lese ich in einem Ratgeber. Nun, im Großen und Ganzen hat unser Umfeld sehr gut reagiert, aber dennoch: Verstehen kann ich das Schweigen und das Mitleid oder das Entsetzen, aber ich muss und will es nicht akzeptieren. Denn wenn ich es akzeptiere, dann wird sich nichts ändern. Und wenn sich gesellschaftlich nichts daran ändert, wie wir auf Menschen mit Down Syndrom schauen, dann gelingt es schließlich vieleicht doch, das „Basisrisiko“für eine Behinderung fast „voll zu eliminieren“.

Kinder und Eltern leiden weniger unter dem Down Syndrom als unter der Art, wie andere mit ihnen umgehen.

Was das angeht, könnt ihr alle etwas bewirken.

Die meisten tun das schon, dafür danke ich euch sehr.

3 Gedanken zu “Wut (über Aufklärung, Teil 2)

Kommentare sind geschlossen.