Ronja und ich haben weiter zugenommen, das beruhigt mich sehr. In den letzten Tagen in denen ich so traurig war, hat sie ihre Füßchen netterweise von meiner Blase weggedreht. Statt mich zu treten, hat sie mir oft wenn ich traurig war, ganz sanft und zärtlich in die Seite geboxt, als wollte sie sagen: „Hey, nicht weinen, ich bin doch da, es geht mir gut“. Ich spüre mittlerweile ständig ihre Bewegungen. Es ist ein so wunderschönes Gefühl, zu wissen, dass sie da ist und ständig kräftiger wird!

Viele Sorgen um Ronjas Gesundheit und um unsere gemeinsame Zukunft sind noch präsent und werden es wohl auch bleiben. Sie tauchen auf und verschwinden aber, aber sie haben nicht mehr die Kraft, alles andere daneben auszulöschen. Die große Freude auf unser kleines Mädchen ist zurück gekehrt und auch die Ungeduld, sie bald kennen lernen zu dürfen.

Was war es, dass uns diese Freude in den letzten Tagen genommen hat?

Es waren die Sorgen um Ronjas Herz und um ihre Gesundheit allgemein. Es waren diffuse Schuldgefühle, als hätte ich mich in der Schwangerschaft falsch verhalten, als hätten wir Ronja etwas Krankes, etwas Schlechtes und Defizitäres mitgegeben. Als würde die Fähigkeit, gesunde Kinder zu bekommen, auch meinen Wert als Frau und Mutter betreffen. Ja, auch dieses Gefühl war tatsächlich da. Woher es kommt, weiß ich nicht. Damit verbunden war es die Sorge, andere zu enttäuschen, auf Unverständnis und Ablehnung zu stoßen und es war die Angst davor, tiefen Schmerz zu erleben, falls andere unser Kind nicht lieben können, wenn sie auf der Welt ist. Auch den Ursprung dieser Ängste kann ich nicht erklären. Ich kann nur sagen, dass sie da waren.

Ich kann aber auch berichten, wieviel Liebe und Unterstützung uns begegnet ist, wieviele Herzen Ronja ganz tief berührt hat und wie wunderbar es war zu sehen, wieviele Menschen sich gemeinsam mit uns auf unser Mädchen freuen.

Das hat uns sehr geholfen, unsere Freude zurück zu gewinnen. Unser Kind mit seinem „undichten“ Herzen hat die Fähigkeit, die Herzen anderer Menschen ganz weit zu öffnen und sie zeigt uns schon, noch bevor sie geboren wurde, wieviel Liebe es in der Welt geben kann und dass es letztendlich doch um nichts anderes geht im Leben, als genau darum.

Was uns in den letzten Tagen so beschäftigt hat war aber noch etwas anderes. Es war das Gefühl, als habe man uns komplett den Boden unter den Füßen weggezogen, als sei die Welt von außen betrachtet zwar die selbe, habe sich aber aus unserer Perspektive um 180 Grad gedreht. Das Gefühl, das Leben rausche außen an uns vorbei, während wir in einer Blase leben, in der nichts mehr wichtig ist, was vorher wichtig war, in der alle unsere Erwartungen und Träume von einem Moment auf den anderen zerstört sind und nichts anderes mehr da ist, als große Angst und Haltlosigkeit.

In dem Maße, wie ich emotional an Boden zurückgewinne und lerne, die Ungewissheit und das völlig Unbekannte als große Chance und Herausforderung zu verstehen, in dem Maße frage ich mich nun, was das denn eigentlich für Erwartungen sein sollen, die uns zerschlagen wurden.

Die Vorfreude auf tiefes Glück mit unserem Kind, die Vorfreude sie aufwachsen zu sehen, sie kennen zu lernen und zu begleiten, all das ist geblieben. Wovon ich mich tatsächlich verabschieden muss sind die Erwartungen und Bilder, von denen ich mir bis vor kurzem gar nicht eingestanden hätte, sie überhaupt zu haben. Bilder dazu, welchen Lebensweg Ronja wählen könnte, welche Erfolge sie haben wird, welches Aussehen und welche Fähigkeiten und welche meiner eigenen Eitelkeiten sie dadurch befriedigen wird. Mein Kind als Accessoire, entprechend dem, was ich mir wünsche und entsprechend dem, was gesellschaftlich eben gerade so als erstrebenswert gilt.

All diese Erwartungen hast du nun radikal zerschlagen, liebe Ronja und ich danke dir dafür von ganzem Herzen.

Man sagt, du hättest eingeschränkte Fähigkeiten und wir müssten lernen, Geduld zu haben und uns damit abzufinden. Das ist in manchen Bereichen wohl auch der Fall. Insgesamt aber, so habe ich das Gefühl, ist es eher anders herum und du wirst dich mit unserer Beschränkheit abfinden müssen, das Wichtige im Leben zu erkennen. In den letzten Tagen habe ich durch dich mehr gelernt, als in Wochen und Monaten davor. Für dieses Geschenk bin ich zutiefst dankbar.

Worum geht es denn, wenn wir Eltern werden?

Sollte es nicht generell unsere Aufgabe sein, einem neuen Menschen in diese Welt zu verhelfen, und diesem Wesen mit Neugier und Liebe zu begegnen, ohne uns selbst darin verwirklichen zu wollen? Ist es nicht prinzipiell so, dass wir bei jedem Kind, Down Syndrom hin oder her, lernen müssen uns die eigenen Erwartungen bewusst zu machen um uns davon zu verabschieden? Kommt nicht furchtbar viel Streit und Leiden genau daher, dass wir als Eltern genau an dieser Aufgabe scheitern?

Es braucht Erwartungen und scheinbare Gewissheiten, natürlich, denn ohne diese können wir nicht in die Zukunft sehen, nichts planen und uns auf nichts verlassen. Aber wir sollten nicht daran festhalten, sollten verstehen, dass sie letztendlich nicht mehr sein können als Hilfslinien, zwischen und über denen das eigentliche Gemälde entsteht. Hilfslinien, die sich an dem orientieren, was wir malen möchten und nicht andersherum. Hilfslinien, die sich einfach wieder ausradieren lassen um sie durch passendere zu ersetzen, wenn das nötig ist.

Das Kind, das ich als Baby in meinen Armen halte kann ein Mahatma Gandhi oder ein Adolf Hitler werden, es kann erst Spitzensportler sein und dann im Rollstuhl landen.

Ein schwerer Unfall, und unser erwachsenes Kind liegt im Koma. Zwar können wir versuchen, am Anfang des Lebens zu selektieren, aber ein späteres Rückgaberecht, eine Garantie oder eine Versicherung gibt es nicht. Welche Tragweite hat angesichts dessen die Einsicht, dass wir für Ronja ein Leben lang verantwortlich sein werden? Sind wir das nicht für jedes Kind?

Liebe Ronja, ich hoffe, dass du nicht verzweifeln wirst an unserer Langsamkeit und unserer Blindheit, wenn es um die wichtigen Dinge im Leben geht. Du bist ein großes Geschenk.
Wir sind dankbar für die Kraft, es anzunehmen.